Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Er ließ ihn niederknien, trat mit dem Revolver hinter ihn und schoß zweimal an seinem Kopf vorbei. ,Nun gut, für heute ist es genug’, sagte er dann. Solche Scherze haben sie sich ausgedacht. Bobronikow aber lag auf der Erde und stöhnte nur und rührte sich nicht, man musste ihn in die Zelle zurücktragen.
Und seit jener Stunde ist er mit seinem Kopf in der anderen Welt, er denkt nicht mehr an seine Menschenrechte, er schreit nach dem Popen und nach den Chorsängern und will begraben sein.“
Eine Weile war Stille in der Kerkerzelle. Dann sagte der alte Mann:
„Jetzt schläft er, träumt vielleicht, dass er in der Ewigkeit ist und dort vor Gottes Antlitz Körbchen und Bastschuhe verfertigt. Und auch für uns ist es Zeit geworden. Dort im Winkel steht ein Wasserkrug, Brot werden Sie heute schon nicht mehr bekommen.“
Er blies das Lampenlicht aus und tastete sich auf seinen Platz zurück. Und während er sich zum Schlafen ausstreckte, deutete er auf die Decke der Zelle.
„Hören Sie ihn?“flüsterte er. „Das ist der Kommandant. Die ganze Nacht hindurch geht er in seinem Zimmer auf und nieder. Er kann nicht schlafen. Die Toten lassen ihm keine Ruhe.“
Gegen sieben Uhr morgens wurde die Türe aufgerissen. Der Gefängniswärter trat in die Zelle, leuchtete mit seiner Azetylenlampe dem ihm zunächst Liegenden ins Gesicht und rief:
„Bürger Bobronikow, machen Sie sich fertig! Mit Gepäck zum Bahnhof.“
Bobronikow, der ,Tote’, sprang auf, stieß einen durchdringenden Schrei aus und flüchtete in einen Winkel. Dort warf er sich zu Boden und schlug mit Händen und Füßen um sich. Den Zellenältesten, der ihn beruhigen wollte, biss er in den Finger. Aus der Nachbarzelle, in der man die weiblichen Häftlinge zusammengepfercht hatte, kamen hysterische Angst- und Hilferufe. Zwei Rotarmisten, die auf den Lärm hin herbeigeeilt waren, machten der Szene ein Ende. Sie warfen sich auf den Tobenden und zerrten und schleiften ihn zur Tür hinaus.
An Schlaf dachte niemand mehr. Ein öder, trostloser Tag brach heran. Vittorin fand in seiner Tasche ein wenig Brot und Käse und zwei Zigaretten. Als er zu essen begann, trat ein hochgewachsener Mann auf ihn zu, nannte, höflich sich verbeugend, seinen Namen – Leonid Wassilitsch Awdochin – und seinen Beruf. Er war Rechtsanwalt. Die Intrigen und Denunziationen seines Hausgesindes hatten ihn in das Gefängnis gebracht. Mit leiser und angenehm klingender Stimme machte er Vittorin die Mitteilung, dass der Hausordnung gemäß immer der Letztangekommene den Boden der Zelle aufzuwaschen habe. Mit einem begehrlichen Blick auf Vittorins Zigaretten erbot er sich, ihm diese Arbeit abzunehmen. Seit sieben Tagen, sagte er, habe er nicht geraucht.
Als er die Zigaretten erhalten hatte, bestand er höflich, aber mit Entschiedenheit darauf, die Arbeit für Vittorin auszuführen. Ein wenig Bewegung täte ihm gut. Und während er auf dem Boden kniete und den nassen Fetzen handhabte, pflanzte sich ein kleiner, kahlköpfiger Mensch vor Vittorin auf und schrie:
„Seht einmal den Neuen da an, was der für ein Prinz ist. Eine Schande ist das. Läßt die anderen für sich arbeiten, schämt sich nicht?“
Der Kahlköpfige war ein ehemaliger Sowjetangesteller, der wegen wiederholter Defraudationen und weil er Bestechungsgelder angenommen hatte, in Haft gesetzt worden war. Mit allen Zelleninsassen, die nicht von proletarischer Herkunft waren, lebte er in beständigem Unfrieden.
Der Rechtsanwalt kam Vittorin zu Hilfe.
„Sie sollten in Ihrem Winkel bleiben und schweigen, ganz still sollten Sie sein, Iwan Sergejewitsch“, sagte er. „Man kennt Sie hier, man weiß, was Sie für ein Arbeiter waren. Vor Ihnen werde ich schon nicht niederfallen vor Ehrfurcht. Mit der einen Hand haben Sie die Rubelchen genommen, mit der anderen sie eingesteckt. Solch ein werktätiger Arbeiter sind Sie gewesen.“
Der ehemalige Sowjetangestellte wurde blass vor Zorn und überschüttete den Rechtsanwalt mit einer Flut von Beschimpfungen. Er nannte ihn einen gemeinen Wucherer, eine krätzige Ratte und eine Laus, die man zerdrücken müsse. Dann kehrte sich seine Wut gegen einen jungen Menschen mit sorgfältig gescheiteltem Haar, einen Schauspieler aus Kiew, der dem Rechtsanwalt beifällig zugenickt hatte.
Der Streit wurde allgemein. Der Lehrer der städtischen Mädchenschule, Semjon Andrejewitsch, fiel über seinen Nachbarn, einen alten Landstreicher und Klosterbettler, her, versetzte ihm einen Rippenstoß und brüllte:
„Komm mir nicht zu nahe, du Waldgespenst, du alte Cholera! Ich zerbreche dir alle Knochen. Machst dich hier breit, als säßest du auf zwei Hintern. Verkrieche dich, verschwinde! Ich möchte dich hundert Jahre lang nicht sehen.“
Der Zellenälteste wandte sich mit einem Achselzucken an Vittorin.
„So geht es alle Tage hier zu. Sie haben es verlernt, wie Menschen miteinander zu leben. Wie die Hunde bellen sie einander an.“
Das Erscheinen der Schwester vom Roten Kreuz machte dem Gezänke ein Ende. Von allen Seiten wurde sie mit Fragen bestürmt, denn sie bedeutete für die Insassen der Zelle die einzige Verbindung mit dem Licht, mit dem Leben, mit einer glücklicheren Vergangenheit. Doch es war ihr verboten, sich mit den Gefangenen in Gespräche einzulassen. Schweigend verteilte sie die Brotportionen für den ganzen Tag. Dem ehemaligen Gutsbesitzer Storoschew, der in eine Decke gehüllt, fiebernd und fröstelnd auf der Pritsche lag, gab sie Tropfen aus ihrem Medikamentenkasten. Der Landstreicher, der sich vor den Püffen seines Nachbarn in den dunkelsten Winkel der Zelle zurückgezogen hatte, klagte über Kreuzschmerzen. Er verlangte Moosbeeren, mit deren Saft er sich den Rücken einreiben wollte. Dieses Mittel, bedeutete er der Schwester, helfe unfehlbar, auch gegen Bluthusten und gegen Bienenstiche sei es zu verwenden, er habe es von einem Mönch des Jakowlewschen Klosters, den man Amfilogi, den Gottgefälligen, nannte.
Der Schauspieler machte sich an den Rechtsanwalt heran.