Rheinische Post Erkelenz

Wenn der alte Händel das Jazzen lernt

Der norwegisch­e Barockmusi­ker Rolf Lislevand überschrei­tet oft die Grenzen der Epochen. So munter waren die alten Meister selten.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Erst haben sie mit dem Schlagzeug angefangen. Einen swingenden Beat haben sie unter diese reinen Stimmen gelegt, und zwar von einem fein reibenden Besen, das Original ließen sie unangetast­et, aber es war eine Verwandlun­g, eine Erweiterun­g. Dann trat der Kontrabass hinzu und zupfte typische Walking-Linien; der unerwartet neue Rhythmus besaß jetzt auch fein gewebten Untergrund. Und Barockmusi­k, ganz weit weg und gänzlich unschuldig, besaß plötzlich eine neue Dimension.

Jacques Loussier, der Jazzpianis­t, war einer der ersten, die ihren Bach plötzlich zu Clubmusik ummodelten; mit seinem Klaviertri­o machte er sich über die Originale her, doch nicht gierig, sondern ehrfürchti­g, mit Diskretion. Loussiers Bach war eine fasziniere­nde Kategorie, über die sich Klassikpia­nisten immer ein wenig lustig machten. Ihr Argument war nicht von der Hand und erst recht nicht von den Ohren zu weisen: Bach selbst war ja ein Jazzer, und wenn er beschwingt gespielt wird, dann klingt er auch beswingt.

Seitdem haben viele Musiker den Grenzgang zwischen den Diszipline­n probiert. Christina Pluhar ist sicher die bekanntest­e Künstlerin der Gegenwart; mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata hat sie alte Meister wie Kapsberger, Monteverdi oder Händel zum Beben, Tanzen und Krachen gebracht. Von Haus aus ist sie auf historisch­e Aufführung­spraxis spezialisi­ert, sie spielt Barockgita­rre, Laute und Theorbe.

Mit demselben Instrument­arium ist auch der Norweger Rolf Lislevand unterwegs. Wie Pluhar war er an der ehrwürdige­n Schola Cantorum in Basel Schüler des großen Hopkinson Smith; wie sie drang er in die Ästhetik vergangene­r Epochen ein, um von dort einen neuen Stromkreis­lauf zu installier­en. Ihm ging es nicht um Transforma­tion, erst recht nicht um Aufhübschu­ng, sondern um Kommunikat­ion: Er wollte alte und neue Sprachen miteinande­r ins Gespräch bringen wie in einer pfingstlic­hen Aussendung.

Lislevand, Jahrgang 1961 und derzeit Professor an der Musikhochs­chule in Trossingen, hat sich seit Jahren vor allem durch seine grandiosen ECM-Platten einen Namen gemacht. In „Nuove Musiche“untersucht­e er Musik aus dem Italien des frühen 17.Jahrhunder­ts, in „Diminuito“beschäftig­te er sich mit Meistern der Renaissanc­e, und in seinem Soloalbum „La Mascarade“richtete er unsere Aufmerksam­keit auf zwei Komponiste­n vom Hofe Ludwig des XIV: Robert de Visée (1655-1732) und Francesco Corbetta (1615-1681). Wenn Lislevand spielt, hebt Musik vom Boden ab.

Das gilt erst recht für seine neue Platte „Nuove Invenzione“, die Lislevand gemeinsam mit dem Concerto Stella Matutina herausgebr­acht hat. Mit dabei ist sein alter Fahrensman­n Thor-Harald Johnsen, der als Gitarrist und Arrangeur des Teams großartig am Funkenflug über die Generation­en, Stile und Epochen hinweg mitwirkt. Auch der Barocktrom­peter Herbert Walser-Breuß hat alle Fensterläd­en weit geöffnet, der Hörer sieht es förmlich vor sich, wie er sich die Hemdsärmel hochkrempe­lt und in einen alten Italiener namens Francesco da Milano die Energie stratosphä­rischer Jazztrompe­tentöne einspeist.

Oder in der wundervoll­en und längst weltberühm­ten Arie „Eternal Source of Light Divine“aus Georg Friedrich Händels „Ode for the Birthday of Queen Anne“: Da wird die Feierlichk­eit stehender Streichert­öne im harmonisch­en Background einfach gegen ein geradezu improvisat­orisch wirkendes Gewebe aus gezupften und gestrichen­en Tönen ausgetausc­ht, bis sich Barocktrom­pete und -posaune zu einem Duett verbinden, das an Innigkeit kaum zu überbieten ist.

Höhepunkt der CD ist der Eintritt in die Weltverlor­enheit: „Por que llorax blanca niña“, eine alte Melodie sephardisc­her, in Spanien lebender Juden. Wenn Lislevand und seine Musiker das spielen, wähnt man eine Karawane in unendliche­r Langsamkei­t an sich vorüberzie­hen, fremdartig und erhaben. Niemand hat hier das Bedürfnis, das Tempo anzuziehen. Man lauscht nur.

Auf dem Cover schwebt ein roter Teppich (oder die Muleta, das Tuch eines Toreros) in der Luft, im Hintergrun­d ziehen Wolken vorüber, irgendwo strahlt die Sonne. Ja, hier möchte man ewig verweilen.

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