Die Straße der anderen
Seit dem Anschlag des NSU haben die Menschen auf der Kölner Keupstraße viel durchgemacht: falsche Verdächtigungen, mangelnde Aufklärung, Misstrauen. Doch es gibt Aufarbeitung – und nun das NSU-Urteil. Was hat all das mit der Straße gemacht?
Waren unter freiem Himmel, in Hinterhöfen lasen sie die Protokolle aus den NSU-Untersuchungsausschüssen vor. Auf den Straßen wurde gekocht, Deutsche und Migranten kamen ins Gespräch – endlich. „Eine Lawine der Liebe“, sagt Sahin. Dreimal feierte Köln Birlikte, dann wurde die Organisation zu aufwendig.
Was also bleibt vom Anschlag? Körperliche Narben und seelische Wunden. Wut, dass auch nach dem Urteil nicht klar ist, welche Beziehung etwa der Verfassungsschutz zum NSU-Netzwerk hatte. Angst, dass es noch Helfer von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gibt, die frei herumlaufen. Aber auch ein neues Selbstbewusstsein der Keupstraße.
Die stete Polizeipräsenz nach dem Anschlag hat die Kriminellen vertrieben. Schon lange, sagt der Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs, gebe es gefährlichere Orte als die Keupstraße. Heute leben hier Türken, Kurden und Deutsche, Anhänger von Erdogan, Gülen und Merkel, tief Gläubige und Atheisten. „Jeder weiß, was der andere für eine politische Einstellung hat“, sagt Sahin. Doch auf der Straße, bei Kaffee und Zigaretten, ziehen sie sich nur gegenseitig damit auf. Einen Tag nach dem Putsch in der Türkei servierte ein Erdogan-Anhänger einem Erdogan-Gegner den Tee. Am Ende, sagen sie, wiegt die Nachbarschaft mehr als die Politik.
Die Geschäftsleute der Straße sind heute zum Großteil Deutsche, die auch Türkisch sprechen. Sie füllen mit ihren Geschäften Marktlücken, nutzen ihre Traditionen als Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb der Einzelhändler. Sie geben den Türken ein Stück Heimat, den Deutschen wollen sie einen Ausflug in den Orient bieten. Wenn sie denn nur kämen. Zwar halte wohl keiner mehr die Keupstraße für einen Drogenumschlagplatz. Doch noch immer sehe man zu wenige deutsche Gesichter, sagen viele hier. Dabei wollen die Geschäftsleute die Deutschen als Kunden: „Wenn ein Deutscher bei dir einkauft, bedeutet das Anerkennung“, erklärt Meral Sahin. Und das ist alles, was sie wollen.
Bis sie die wirklich haben, geht der Alltag in der Keupstraße weiter. Im Lottokiosk von Cemal Güzel kauft ein Mann Spielscheine fürs Wochenende. Früher, erzählt Güzel, war es Pflicht, die Namen der Kunden auf den Scheinen zu notieren. „Damals haben meine Kunden gesagt: Die sehen unsere türkischen Namen und lassen uns nicht gewinnen“, sagt Güzel. Jetzt ist alles anonym. Jetzt, so hoffen sie, haben alle die gleichen Chancen. Der Kunde winkt dem Kioskbesitzer zum Abschied mit seinem Lottoschein. „Vielleicht“, sagt er, „gewinnt ja dieses Mal die Keupstraße.“