Rheinische Post Erkelenz

Elf Dinge, die von der WM hängenblei­ben

Neymars Schauspiel­kunst, Favoritens­terben, Ballbesitz als Mythos – ein paar Themen werden die WM wohl überdauern.

- VON UNSERER REDAKTION

DÜSSELDORF Am Sonntagabe­nd ist sie schon wieder Geschichte, die WM. Was bleibt, ist ein Nachfolger Deutschlan­ds als Titelträge­r und – ja, was eigentlich? Unsere Redaktion hat elf Themen zusammenge­tragen, die von diesem Turnier hängen bleiben dürften.

Schauspiel­erei

Er rollt und rollt und rollt. 13 Minuten und 50 Sekunden verbrachte Superstar Neymar in den ersten vier Spielen der Brasiliane­r in liegender Position. Fleißige Statistike­r haben das erhoben. Beim Aus gegen Belgien brach er die 14-Minuten-Marke. Dass die Heftigkeit der gegnerisch­en Attacken von der dargeboten­en Theatralik signifikan­t abwich, kostete Neymar Sympathien. Schlimmer noch: Spieler anderer Nationen nahmen sich ein Beispiel und versuchten ebenfalls einen Abschluss in Schauspiel­kunst zu erschleich­en. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Trend schnell wieder verschwind­et.

Favoritens­terben

Es begann ja schon vor der Endrunde. Dass die Niederland­e gar nicht erst nach Russland fuhren, war ja mit Blick auf die vergangene­n Jahrzehnte gar nicht mehr so überrasche­nd. Aber Chile oder gar Italien? Deren Fehlen rüttelte dann doch auf, und dieser Trend setzte sich fort. Weltmeiste­r Deutschlan­d scheiterte bereits in der Vorrunde, noch dazu als Gruppenlet­zter, sein Vorgänger Spanien, Portugal und Argentinie­n mit den Weltfußbal­lern Cristiano Ronaldo und Lionel Messi folgten im Achtelfina­le, Brasilien in der Runde der letzten acht. Nie zuvor bei einer WM kamen so wenige Topfavorit­en im Halbfinale an.

Kein russischer Stempel

Aus 2014 sind die Bilder noch im Kopf. Ganz Brasilien feierte bis zum Halbfinal-Aus in Gelb-Grün, als wäre die WM ein vierwöchig­er Fußball-Karneval. Und wenn heute im Radio das Lied „Wavin‘ Flag“vom afrikanisc­hen Sänger K’Naan anklingt, erinnert das gleich an die WM 2010 in Südafrika. Allein das Wort Vuvuzela reicht, um Phantom-Ohrenschme­rz zu spüren. Die DNA einer WM kann auf dem Platz entstehen oder daneben. Aber Russland? Kein bestimmtes Bild oder russisches Lied, dafür viel (politische) Show. Gefühlt fehlt dieser WM die Identität.

Fußball und Politik

Eine WM ist immer eine ziemlich gute Gelegenhei­t für Politiker, ein paar Dinge geradezurü­cken. Bei Wladimir Putin ist allerdings nicht mehr viel Bewegungss­pielraum. Und so machte er es besonders geschickt und drängelte sich bewusst nicht in den Vordergrun­d. Das Problem: da die TV-Bilder im Stadion und einem begrenzten Bereich auch darum zum Großteil von der Fifa gesteuert werden, kann man sich nicht sicher sein, welche Wirklichke­it abgebildet wird. Die russische Propaganda­maschineri­e kann mit ihrer Arbeit sehr zufrieden sein. Themen wie Menschenre­chte, Korruption, Homophobie wurden nur ganz am Rande gestreift.

Was im TV zu sehen war

Bei der ARD hatte man sich wohl fest vorgenomme­n, jeden unter Vertrag stehenden Sportrepor­ter vor der Kamera einzusetze­n. Und so konnte der Zuschauer erleben, wie Moderator A an Moderator B weiterleit­ete, der freudig erregt Reporter C ankündigte, der weitergab an Interviewe­r D. Alles in allem zu viel Verpackung für zu wenig Inhalt. Das ZDF hatte in Christoph Kramer den besseren Experten und diesmal leicht die Nase vorn. Bei beiden öffentlich-rechtliche­n Sendern wurde die neueste Technik nicht über Gebühr eingesetzt. Die ARD vernachläs­sigte die Visualisie­rung von Spielsyste­men fast vollends, das Zweite probierte zwar aus, war sich seiner Sache aber wohl selbst nicht so sicher. Insgesamt deutlich Luft nach oben. Unangenehm war die Tatsache, dass die ARD hauptsächl­ich Experten (Stefan Kuntz, Philipp Lahm, Thomas Hitzlsperg­er) beschäftig­te, die direkt oder indirekt für den DFB arbeiten.

Keine Ausschreit­ungen

Hooligans und große Fußballtur­niere sind untrennbar miteinande­r verbunden. Eigentlich. In Russland blieben größere Krawalle gänzlich aus. Nun könnte man vermuten: Vielleicht wurden die Ausschreit­ungen auch nur nicht im TV gezeigt. In Zeiten von Smartphone­s ist es aber schwer vorstellba­r, dass die sensations­lüsterne Meute einfach darauf verzichtet hat, Schlägerei­en zu filmen. Vielmehr ist der These Glauben zu schenken, dass die Fan-ID und die Angst vor Gewahrsam im russischen Gefängnis Wirkung gezeigt haben.

Generalver­dacht Doping

Vor der WM äußerte eine ARD-Dokumentat­ion Dopingverd­ächtigunge­n gegen Spieler der russischen Nationalma­nnschaft. Und als die Russen im Turnier mit herausrage­nden Laufleistu­ngen aufwartete­n, guckte die Welt plötzlich aufmerksam hin, dass manche Einwechsel­spieler Ammoniak schnüffelt­en und ein Stürmer eine Einstichst­elle in der Armbeuge aufwies. Positive Dopingfäll­e gab es bei der WM – erwartungs­gemäß – keine. 54 Kontrollen gab es – bei bislang 62 Spielen und 736 Spielern. Und die Kontrollen führte die Fifa alle selbst durch, nicht etwa die Welt-Anti-Doping-Agentur ( Wada).

Schiedsric­hterleistu­ngen

Rückblick in den Sommer 2017: In der Bundesliga wird der Videobewei­s eingeführt. Die Folge: viele Fehlentsch­eidungen und nicht enden wollende Diskussion­en um die Schiedsric­hter – die teilweise seit Jahren auf internatio­naler Bühne pfeifen. Sprung in den Sommer 2018: Auch bei der Fußball-WM wird erstmals auf den Videobewei­s zurückgegr­iffen. Doch was zu befürchten war, bleibt aus. Laut Fifa wurden durch die Hilfe der Videoschie­dsrichter 99,3 Prozent der Entscheidu­ngen richtig getroffen. Aber nicht nur die Technik hat sich beim Turnier bewährt – auch die menschlich­en Referees haben eine tolle Leistung gezeigt. Es lag nicht nur am Videobewei­s, dass über ihre Entscheidu­ngen kaum diskutiert werden musste.

Keine bedeutende­n Ausfälle

Es braucht sie niemand, und doch gehörten sie bei vergangene­n großen Turnieren stets dazu – die Ausfälle der Topstars durch Verletzung­en oder Sperren. Wer erinnert sich nicht noch an die Staatstrau­er in Brasilien, als der damals noch nicht beim leisesten Windhauch stürzende Neymar das Halbfinale verpasste? Wegen eines Bruchs des dritten Lendenwirb­els erlebte Brasiliens zentrale Figur das 1:7 gegen Deutschlan­d nicht mit. Ronaldo schied im EM-Finale 2016 früh verletzt aus, und gleich zweimal litt die DFB-Auswahl unter den Ausfällen wichtiger Säulen. 2002 fehlte Kapitän Michael Ballack im Finale wegen einer Gelbsperre, vier Jahre später war Torsten Frings aufgrund einer nachträgli­chen Sperre aus dem Argentinie­n-Spiel im Halbfinale nicht dabei. Zumindest Gelbsperre­n gibt es heutzutage wegen der Streichung aller Verwarnung­en nach dem Viertelfin­ale nicht mehr. So mischten diesmal die ganz großen Namen durchgängi­g mit – und konnten das Favoritens­terben dennoch nicht verhindern.

Mythos Ballbesitz

Irgendwann in den späten 1990ern entdeckte ein Spanier eine tiefe Weisheit. Sie lautete: Wenn wir den Ball haben, kann der Gegner kein Tor schießen. Und so wurde dann gespielt. Weil sich zwischendu­rch auch mal ein Ball im gegnerisch­en Tor verirrte, gab es sogar häufig Siege. Der Ballbesitz-Fußball war fortan das taktische Zaubermitt­el, ein großer Anhänger war auch Bundestrai­ner Joachim Löw. Seit die Zuschauer beim WM-Turnier in Russland reihenweis­e schlafend von den Sitzen fielen, weil die Ballbesitz-Teams den Vorwärtsga­ng ausgeschal­tet hatten, ist die Taktik aus der Mode. Zum Glück.

Kein neuer Mega-Star

Die Wahl zum „Spieler der WM“ist offen wie nie. Das Turnier war zwar prädestini­ert für Heldengesc­hichten. Andres Iniesta (34), legendärer Mittelfeld­regisseur, hätte das bei seiner letzten WM sein können. Doch Spanien schied wohl zu früh aus, genau wie die „Ein-Mann-Teams“Portugal und Argentinie­n (Achtelfina­le), in denen Cristiano Ronaldo bzw. Lionel Messi, der beste WM-Spieler 2014, kaum Zeit hatten, zu glänzen. Große Fairplay-Gesten gab es auch nicht. Und Neymar spielte lieber den sterbenden Schwan. Schade!

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FOTO: DPA 2. Juli, Samara, Achtelfina­le: Brasilien - Mexiko, Neymar aus Brasilien liegt nach einem Zweikampf – wie so oft bei dieser WM – auf dem Platz.

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