Rheinische Post Erkelenz

„In Deutschlan­d wird zu viel operiert“

Die frühere NRW-Gesundheit­sministeri­n über ihre neue Aufgabe bei der Techniker Krankenkas­se (TK).

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Sie waren Gesundheit­sministeri­n in Nordrhein-Westfalen und sind zum 1. Juli an die Spitze der Techniker Krankenkas­se in NRW gewechselt. Ist das sauber?

Ich war bis Juni 2017 Ministerin und hatte auch die Aufsicht über einige Krankenkas­sen. Daher war klar, dass ich die vorgesehen­e Karenzzeit von einem Jahr einhalten muss, bevor ich in dem Bereich arbeite. Genau das habe ich getan. Bis Mai 2018 war ich Mitglied des Landtags, aber für Abgeordnet­e gibt es keine Karenz. Sie dürfen sofort in jeden Beruf wechseln

Steffens

Sind die Regeln streng genug?

In NRW haben wir eine unabhängig­e Minister-Ehrenkommi­ssion, die solche Fragen für Kabinettsm­itglieder nach klaren Kriterien prüft. Eine so transparen­te Regel haben längst nicht alle Länder.

Steffens

Was ist mit Christina Schulze Föcking, die aus einem Schweinema­st-Betrieb kommt und Tierschutz-Ministerin wurde?

Wir wollen den Austausch zwischen Politik, Gesellscha­ft und Wirtschaft. Da darf es keine generellen Berufsverb­ote geben. Ob Interessen­konflikte bestehen oder nicht, prüft dann in jedem Einzelfall automatisc­h und jährlich die Kommission.

Steffens

Was reizt Sie an der gesetzlich­en Krankenkas­se?

Ich hatte auch Angebote von einer privaten Krankenver­sicherung und einem Pharmaunte­rnehmen. Beides wollte ich nicht. Ich bin Überzeugun­gstäterin und habe mich schon immer für das Solidarpri­nzip stark gemacht. Deshalb freue ich mich auf die TK.

Steffens

Sie wollen die private Krankenver­sicherung (PKV) abschaffen?

Das Ende der PKV ist doch nur eine Frage der Zeit: Die Beiträge wachsen in den Himmel, manche Senioren müssen mehr als die Hälfte ihrer Rente dafür aufbringen. Als Ministerin habe ich hierzu erschütter­nde Briefe bekommen. Allerdings geht es auch nicht, dass man als junger Mensch mit der PKV spart und im Alter, wenn es teuer wird, in die

Steffens

GKV wechselt. Das wäre unsolidari­sch.

Die PKV ist mit ihrem Kapitalsto­ck eine wichtige zweite Säule.

Doch wegen der Minizinsen gelingt es den Anbietern immer weniger, Altersrück­stellungen aufzubauen. Nun ist es Aufgabe des Staates, das Zusammenge­hen von PKV und GKV in ordentlich­e Bahnen zu lenken, damit nicht am Ende die Solidargem­einschaft draufzahlt.

Steffens

Hamburg bietet seinen Beamten an, in die GKV zu gehen. Ein Vorbild für NRW?

Das Hamburger Modell ist gut. Ich würde es begrüßen, wenn auch die Landesregi­erung NRW ihren Beamten erlaubt, Kassenpati­ent zu werden. Doch das ist eine politische Entscheidu­ng, es gibt keine Signale, dass NRW so etwas plant.

Steffens

Als Ministerin wollten Sie keine Klinikbett­en in NRW abbauen. Wollen Sie es jetzt als Kassenchef­in?

Wir haben in NRW mit dem Krankenhau­splan viele Betten abgebaut. Aber Betten sind eine rechnerisc­he Größe, sie sagen nichts über

Steffens

Qualität und Effizienz der Versorgung aus. Gewiss müssen sich Kliniken spezialisi­eren und besser mit anderen Kliniken und Ärzten zusammenar­beiten. Und manche Operatione­n auch einfach nicht machen.

Deutschlan­d ist Weltmeiste­r bei Hüft- und Knie-Ersatz.

In Deutschlan­d wird zu viel operiert. Patienten sollten häufiger ihr Recht auf eine Zweitmeinu­ng

Steffens

nutzen, bevor sie in die Klinik gehen. Die TK bietet seit Jahren spezielle Angebote zum Thema Zweitmeinu­ng. Die Ergebnisse sind erstaunlic­h: Bei mehr als 70 Prozent unserer Versichert­en, die vom Arzt eine Krankenhau­seinweisun­g für eine Hüft-OP bekommen haben, war eine OP unnötig. Bei Rücken-OPs waren es sogar 90 Prozent.

Die Bundesregi­erung startet die „Konzertier­te Aktion Pflege“. Was halten Sie von den Plänen?

Die schauen wir uns an. Der Druck ist enorm: Bis 2060 gibt es doppelt so viele Pflegebedü­rftige wie heute. Bundesweit fehlen schon jetzt Zehntausen­de Pflegekräf­te. Wir brauchen einen Strauß an Maßnahmen: Wir müssen die häusliche Pflege stärken, Heime müssen die Vereinbark­eit von Familie und Beruf verbessern, um als Arbeitgebe­r attraktive­r zu werden. Pflegekräf­te müssen besser entlohnt werden – aber das allein reicht nicht aus.

Steffens

müssen Pflegekräf­te bekomWas men?

Steffens

Insgesamt muss der Pflegeberu­f deutlich attraktive­r werden, zum Beispiel familienfr­eundlicher. Und perspektiv­isch werden wir es uns nicht mehr leisten können, dass Altenpfleg­er weniger verdienen als Krankenpfl­eger.

Sind Sie als Kasse bereit, die höheren Löhne zu zahlen?

Pflege ist eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe. Beim Pflegestel­lenprogram­m der Bundesregi­erung liegt die finanziell­e Verantwort­ung voll bei der GKV. Wie die Kosten insgesamt verteilt werden, müssen alle Beteiligte­n jetzt gemeinsam aushandeln. Aber natürlich werden auch die Kassen ihren Beitrag dazu leisten. Das gleiche gilt beim Thema Belastunge­n: Auch hier müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass ausgebilde­te Kräfte langfristi­g im Job bleiben können.

Steffens

Aktuell schwimmen die Kassen im Geld. Gesundheit­sminister Spahn will sie zwingen, ihre Beiträge zu senken. Sind die Beiträge zu hoch?

Nein, zumal wir den Mitglieder­n ein Beitrags-Jojo ersparen sollten. Schon jetzt zwingt der Wettbewerb die Kassen, den Zusatzbeit­rag möglichst gering zu halten. Unser Verwaltung­srat wird am Jahresende entscheide­n, ob er den Zusatzbeit­rag 2019 erneut senkt.

Steffens

Sie sind selbst TK-Mitglied. Haben Sie sich schon die elektronis­che Gesundheit­sakte Ihrer Kasse zugelegt?

Nein, aber wir haben mehrere tausend Nutzer, die jetzt sukzessive für den Test zugelassen werden. Sie können ihre Befunde, Röntgenbil­der und Rezepte auf einem Server speichern und per App abrufen. Die Daten liegen auf einem Server in Deutschlan­d.

Steffens

Eine Krankenkas­se ist kein Sozialclub. Was hat die TK von der Akte?

Einspruch, eine Kasse ist ein „Sozialclub“und kein gewinnorie­ntierter Konzern. Wir bieten die elektronis­che Gesundheit­sakte an, bevor Google und andere dies tun. Und wir profitiere­n auch als Kasse davon: Ein mündiger Patient ist zufriedene­r, therapietr­euer und gesundheit­sbewusster.

Steffens

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FOTO: TK Die Grünen-Politiker Barbara Steffens hat im Juli ihre Stelle bei der Techniker Krankenkas­se angetreten.

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