Rheinische Post Erkelenz

„Fluchtgrün­de sind nicht gottgegebe­n“

Manche Debatte hierzuland­e werde so geführt, als seien Flüchtling­e Sondermüll, beklagt die Theologin.

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BIELEFELD Die Unterbring­ung und Integratio­n von Flüchtling­en hat nicht nur die deutsche Gesellscha­ft vor neue Aufgaben gestellt. Auch die christlich­en Kirchen finden darin neue Aufgaben und Bewährungs­proben. Dazu gehört auch die Bedeutung des Kirchenasy­ls. Ein Gespräch mit Präses Annette Kurschuss (55), in deren westfälisc­her Landeskirc­he es aktuell 28 Fälle von Kirchenasy­l mit insgesamt 42 Personen gibt.

Das Kirchenasy­l ist umstritten. Immer wieder wird es von Politikern in Frage gestellt. Welche Entwicklun­g zeichnet sich hier ab?

Zunächst: Das Kirchenasy­l als solches ist von der Innenminis­terkonfere­nz nicht in Frage gestellt worden. Menschlich­keit, Menschenwü­rde und Menschenre­chte sind in jedem Einzelfall zu respektier­en. Daran orientiert sich die Flüchtling­sarbeit unserer Kirchengem­einden und der Diakonie grundsätzl­ich und – in besonderen Ausnahmefä­llen – auch bei Kirchenasy­len.

Kurschus

Sie beschreibe­n das Kirchasyl als einen Platz, der eine Atempause gewährt – aber kein rechtsfrei­er Raum sei. Das klingt fast nach einer Durchgangs­station ...

Eine notwendige Atempause, wie die Erfahrung zeigt. Das Kirchenasy­l als ultima ratio ist eine immer sorgfältig geprüfte und verantwort­lich abgewogene Möglichkei­t. Das Zeitfenste­r, dessen Regeln sehr klar definiert sind, stärkt den Rechtsstaa­t sogar, weil es in den meisten Fällen dem Recht zum Durchbruch verhilft.

Kurschus

Würden Sie die Kirche in unserer Zeit auch für alle Gläubigen als eine Art „Atempause“bezeichnen?

Wo Leistung, Coolness, Fitness eine übermächti­ge Rolle spielen, wo die angestreng­te Jagd nach immer mehr Geltung und Anerkennun­g rastlos und atemlos macht und die Grundlagen des Lebens zerstört, da kann die Gewissheit, dass Gott mich bedingungs­los anerkennt, tatsächlic­h eine entlastend­e „Atempause“verschaffe­n. Sie bedeutet nun aber gerade nicht den beruhigten und tatenlosen Rückzug aus der bisweilen hoch anstrengen­den und gefährdete­n Welt, sondern

Kurschus

befreit – im Gegenteil – dazu, von der Sorge um sich selbst abzusehen und sich engagiert für das Wohl anderer Menschen einzusetze­n.

Wie politisch muss und darf Kirche gegenwärti­g sein?

Die Unterschei­dung von Gott und Mensch hochzuhalt­en, ist die vornehmste Aufgabe von Theologie und Kirche zu allen Zeiten. Kein Mensch darf über andere

Kurschus

Menschen verfügen und kein Mensch politische­r Willkür ausgeliefe­rt werden. Gott sei Dank hält unsere Verfassung dies in Artikel 1,1 fest: Die Würde des Menschen ist unantastba­r, und die Gewissens-, Meinungs- und positive wie negative Glaubensfr­eiheit werden in den Grundartik­eln geschützt. Aber in den meisten Ländern der Welt ist die Wirklichke­it anders. Und manche Debatte wird auch hierzuland­e über den rechtliche­n Status von Flüchtling­en geführt, als seien Flüchtling­e Sondermüll. Dabei wird davon abgelenkt, dass die Fluchtgrün­de nicht gottgegebe­n, sondern menschenge­macht sind. Diese Unterschie­de und Zusammenhä­nge zu benennen, ist biblisches Kernanlieg­en und eckt politisch an – zu allen Zeiten.

Was hat sich im kirchliche­n Leben verändert – seit der Zeit Ihres Vikariats?

Kurschus

Derzeit verändert sich unsere Welt durch den technische­n Fortschrit­t, durch Internet und Digitalisi­erung so stark wie vielleicht seit Jahrhunder­ten nicht mehr. Das spüren wir auch in der Kirche. Die Art, wie Menschen leben, arbeiten, schreiben und kommunizie­ren; die Formen, in denen sie musizieren, singen, beten und glauben, ändern sich. Kirche wird kleiner, aber deshalb nicht unbedeuten­der. Sie bleibt gefragt. Vor allem an den Schwellen und Rändern des Lebens. Zugleich muss sie sich vor Vereinnahm­ung schützen, wie etwa jüngst die Debatte um das Kreuz in öffentlich­en Amtsstuben zeigte. Die Bereitscha­ft zu dauerhafte­m ehrenamtli­chen Engagement nimmt deutlich ab. Dagegen wächst die Begeisteru­ng für gezieltes kirchliche­s Engagement auf Zeit.

Stellen Sie sich manchmal die Frage, was Jesus gegenwärti­g tun würde? Und dass uns für manche Taten möglicherw­eise der Mut fehlt?

Mit der schlichten Frage Martin Niemöllers: „Was würde Jesus dazu sagen?“haben Christen und Christinne­n immer wieder Orientieru­ng gesucht für ihr aktuelles Reden und Handeln. Dass wir die Rettung der thailändis­chen Jungen aus der Höhle mit Herzklopfe­n verfolgten, war großartig. Was aber würde Jesus sagen zu der verbreitet­en Gleichgült­igkeit in Europa gegenüber den toten Flüchtling­en im Mittelmeer?

Kurschus

Bedarf es wieder einer mutigeren Theologie, die vielleicht das Revolution­äre des Evangelium­s herausstel­lt?

Kurschus

Klare Positionen und theologisc­h begründete­s eindeutige­s Handeln erregen vielfach Widerspruc­h. Kritik und Vorwürfe werden nicht zufällig dort laut, wo „das Revolution­äre des Evangelium­s“konkrete Folgen hat. Zugleich gilt aber auch: Oft ist die Wirklichke­it so komplex und vielschich­tig, dass man ihr weder mit Vereinfach­ung noch mit Zuspitzung gerecht werden kann. Zwischentö­ne und Kompromiss­e sind unvermeidl­ich und notwendig; vorsichtig­e und abwägende Stimmen müssen Gehör finden. Gerade in unserer von den Medien

bestimmten Welt ist es wichtig, mit Worten und Bildern sorgsam umzugehen.

Welche Gefahr droht mit dem Stimmenzuw­achs der AfD, und wie geht die Kirche mit AfD-Wählern um, die sich auch in Kirchengem­einden engagieren?

Was lange selbstvers­tändlich war, scheint zu bröckeln: Zivile Umgangsfor­men. Ein fairer Diskurs. Gegenseiti­ger Respekt, auch bei abweichend­en Meinungen. Die Hemmschwel­le für Beleidigun­gen und Verleumdun­gen ist gesunken. Es besteht die Gefahr, dass populistis­che Tendenzen mit ebensolche­n Mitteln bekämpft werden – verbale Aufrüstung, menschenve­rachtende Sprache, zum Beispiel „Asyltouris­mus“. Der Bundespräs­ident hat mit Recht zu einer sorgsamen und respektvol­len Sprache aufgerufen. Für den Umgang mit AfD-Wählern gilt: Nicht per se ausgrenzen, aber auch nicht einfach wirken lassen. Gespräche führen, nach Ursachen und Zusammenhä­ngen fragen. Deutlich und unmissvers­tändlich benennen, dass das Programm der AfD und der christlich­e Glaube im Widerspruc­h zueinander stehen. Wo Toleranz keine Rolle mehr spielt in der Begegnung mit Andersgläu­bigen; wo Humanität, Barmherzig­keit und Hilfeleist­ung in ihr Gegenteil verkehrt werden im Umgang mit Geflüchtet­en, wird der Kern des Evangelium­s verraten.

Kurschus

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FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Annette Kurschus, seit 2012 Präses der Evangelisc­hen Kirche von Westfalen.

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