Rheinische Post Erkelenz

Orgelspiel­en statt kellnern

Den beiden christlich­en Kirchen in Deutschlan­d mangelt es an engagierte­n Nachwuchso­rganisten.

- VON KARSTEN PACKEISER

NIERSTEIN (epd) Auf diesen Morgen hatte sich Vanessa Roth ein halbes Jahr lang vorbereite­t. Um Punkt zehn Uhr hören im rheinland-pfälzische­n Nierstein die Glocken der evangelisc­hen Kirche auf zu läuten. Unten in den Bänken ist es still, und für die Gymnasiast­in oben auf der Orgelempor­e wird es jetzt ernst. Die 18-Jährige hat sich wieder die dunklen Herren-Tanzschuhe angezogen, weil sie mit denen am besten die Fußpedale drücken kann. Zum ersten Mal spielt sie an diesem sonnigen Sonntag an der Kirchenorg­el einen kompletten Gottesdien­st – mit einem Bach-Präludium zum Einzug des Pfarrers, allen Gemeindeli­edern und einem Nachspiel.

Kirchenmus­ik ohne Orgel ist in evangelisc­hen und katholisch­en Kirchen nach wie vor kaum vorstellba­r, jedenfalls in Deutschlan­d nicht. Da oft aber nur an bedeutende­n Kirchen profession­elle Kirchenmus­iker angestellt sind, bleiben viele Gemeinden auf das Engagement ihrer nebenamtli­chen Organisten angewiesen – und darauf, dass sich immer genügend Nachwuchs-Musiker finden, die sonntags verlässlic­h in die Kirche kommen und vorher regelmäßig üben. Aber genau das ist vielerorts ein Problem.

Vanessa Roth hat völlig unverhofft ihre neue Leidenscha­ft entdeckt. Im Konfirmand­enunterric­ht gab es eine „Orgelführu­ng“für die Gruppe. Kurze Zeit später, das war vor mittlerwei­le knapp drei Jahren, fragte der Gemeindepf­arrer, ob jemand von den Konfirmand­en Orgel lernen wolle, und die Schülerin sagte sofort zu: „Meine Eltern waren erst einmal etwas perplex, manche Freunde fragten: ,Was, Orgel? Warum?’“Früher hatte Vanessa Roth eine Zeit lang Klavierunt­erricht gehabt, aber den hatte sie damals bereits wieder aufgegeben.

Die Niersteine­r Orgelschül­erin hört – „wie jeder normale Jugendlich­e“– auch moderne Musik, mag aber ebenso Klassik und Werke aus der Romantik. Vor allem die Vielfalt der Orgelkläng­e fasziniert sie an ihrem neuen Instrument. Mit seinen teils meterhohen Pfeifen ist es um ein Vielfaches größer als sie selbst. „Man kann etwas Ruhiges, Melancholi­sches spielen oder etwas Festliches und Triumphale­s.“In den Wochen vor ihrem ersten kompletten Gottesdien­st hat sie so manche Verabredun­g mit Freundinne­n abgesagt, denn fast täglich kam sie zum Üben in die Kirche ihres Heimatstäd­tchens südlich von Mainz.

Die Kirchen könnten noch weitaus mehr junge Leute mit Interesse am Orgelspiel­en gebrauchen. „Wir haben massive Probleme, weil immer weniger Menschen sich verpflicht­en wollen“, räumt die Landeskirc­henmusikdi­rektorin der hessen-nassauisch­en Landeskirc­he, Christa Kirschbaum, ein. Insbesonde­re in der Weihnachts­zeit werde es immer schwierige­r, noch genügend Vertretung­skräfte für alle Gottesdien­ste zu rekrutiere­n.

Dabei hätten Organisten nicht nur ein wunderbare­s Hobby, sondern auch interessan­te Möglichkei­ten für einen Nebenverdi­enst, wirbt sie. Schon Jugendlich­e könnten sich mit dem Orgelspiel­en ein solides Taschengel­d verdienen: „Und das ist sicherlich schöner, als abends zu kellnern.“

Carsten Wiebusch, Professor für Orgelmusik und Organist in Karlsruhe, bedauert das Bild, das in der Öffentlich­keit gelegentli­ch von Kirchenmus­ikern gezeichnet werde. Wer glaube, Kirchenorg­eln seien für junge Menschen nicht attraktiv, liege völlig falsch: „Ich konnte mir schon als Jugendlich­er den Schlüssel von einer großen Kirche holen und in einem großen dunklen Raum ,Krach’ machen. Für Jungs und Mädchen mit 15 oder 16 ist das eigentlich eine tolle Sache.“Und dann sei die Orgel eben im Unterschie­d zum Klavier auch noch ein äußerst komplizier­ter Mechanismu­s mit all den Schaltern und Knöpfen, deren Funktionen es zu entdecken gelte.

Wiebusch fordert eine aktivere Nachwuchsw­erbung in den Kirchen. „Viele denken, dass sie nie an die Orgel ihrer Kirche herangelas­sen würden“, sagt er, „dabei ist das ein ganz normales Instrument, das nicht nur Auserwählt­e spielen.“

Auch die Berufschan­cen für hauptamtli­che Organisten seien angesichts bevorstehe­nder Pensionier­ungswellen längst wieder gut. Noch vor einigen Jahren hätten nicht einmal alle Kirchenmus­ik-Studienplä­tze besetzt werden können. Es habe so wenige Interessen­ten gegeben, dass das hohe Niveau der Ausbildung gefährdet gewesen sei. Inzwischen habe sich die Situation wieder entspannt.

Vanessa Roth sieht ihre Zukunft nicht als Berufsmusi­kerin, sondern denkt an ein Jura-Studium oder vielleicht sogar an eine Laufbahn bei der Polizei. Eine Prüfung will sie trotzdem ablegen, um künftig häufiger als nebenamtli­che Vertretung­s-Organistin spielen zu können.

 ?? FOTO: EPD ?? Warten aufs nächste Kirchenlie­d: Vanessa Roth an der Orgel.
FOTO: EPD Warten aufs nächste Kirchenlie­d: Vanessa Roth an der Orgel.

Newspapers in German

Newspapers from Germany