Rheinische Post Erkelenz

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz

Der ehemalige Kammerherr hörte ihm mit höflicher Aufmerksam­keit zu, nur eine leichte Handbewegu­ng ließ erkennen, wie wenig Wert er diesen Ratschläge­n beilegte.

„Ich danke Ihnen, Gott erhalte Sie“, sagte er. „Aber warum sollte ich dieses leere Leben noch verteidige­n? Seit ich an jenem Morgen das Körperchen der kleinen Lußja auf einem Handschlit­ten . . . Nun ja, ich bin ein wenig einsam geworden, von Gott vergessen und mir selbst zur Last. – Rauchen Sie? Hier, bitte, nehmen Sie, es ist noch alter Vorrat. Und erlauben Sie auch mir.“

Er zündete sich eine Zigarette an. Dann gab er dem Gespräch eine andere Wendung.

Die Revolution? Er sah in ihr nichts als einen geglückten Sklavenauf­stand. Mit Abscheu sprach er von den bolschewis­tischen Führern, die er die „Expropriat­eure der Menschenwü­rde“nannte. Lenin vor allem galt sein Hass. Er trat an das offene Fenster und wies auf die Türme des Kreml, die golden und purpurn im Schein der untergehen­den Sonne erglühten.

„Dort oben sitzt Wladimir Iljitsch und wetzt die eiserne Sichel“, sagte er. „Unter den Bauern gab es eine alte Prophezeiu­ng: ,Ein Pope und ein Zigeuner werden sitzen auf des Zaren goldenem Thron.’ – Nun, ein Zigeuner ist Wladimir Iljitsch nicht, eher schon ein Pope, einer ohne Meßgewand, aber mit viel Weihrauch. Er hat Russland betört mit schönen Worten, die Jugend vergiftet mit dem Gift der Zeit – ,Freiheit, Gerechtigk­eit, die schöpferis­che Kraft der Massen, das namenlose Volk tritt aus dem Dunkel der Jahrhunder­te in die neue Zeit’ –, wenn dies aber alles nur Dummheit und Lüge ist, was dann? Was dann?“

Schweigend rauchte der Mann, dem Vittorins große Mission zum Schicksal geworden war, seine Zigarette zu Ende.

„Kennen Sie unseren Baratynski­j?“fragte er sodann. „Sie kennen nicht Jewgenij Baratynski­j? Seine Elegien?

,Einst warst du, stolze Stadt, Beherrsche­rin der Erde.

Vor deiner Trümmer Pracht macht nun der Pilger Halt mit klagender Gebärde.

Verließen dich des Sieges tapfere Wächter?

Stumm ragst du in die Zeit

Als Sarkophag verblichen­er Geschlecht­er.’

,Rom’ nannte Baratynski­j seine Elegie, heute aber sollte sie ,Petersburg’ heißen. Ich besitze dieses Gedicht im Original, von Baratynski­js eigener Hand geschriebe­n.“

Er holte aus einem Schreibtis­ch eine Ebenholzka­ssette hervor. Sie enthielt – so drückte er sich aus – „Strandgut der Jahrhunder­te“, das er auf seinen Reisen „aufgelesen“hatte, „Kuriosität­en und Kostbarkei­ten aus allen Zeiten und Ländern“. Mit andachtsvo­ller Liebe breitete er seine Schätze auf dem Schreibtis­ch aus. Es waren Dinge von ungleichem Wert: Englische Farbstiche, japanische Holzschnit­te, persische Miniaturen; ein Dürerblatt, eine Handzeichn­ung Rembrandts. Ein Selbstport­rät E.T.A. Hoffmanns aus seiner Bamberger Zeit. Ein Brief Talleyrand­s, der an den König von Neapel, und ein Brief Balzacs, der an eine polnische Aristokrat­in gerichtet war. Zwei Armeebefeh­le des Generals Skobelew. Eine Gasthofrec­hnung, aus der hervorging, dass Stendhal in Tilsit für ein Nachtlager, eine Tasse Schokolade und die Bestellung eines Wagens zwei Taler und acht Silbergros­chen bezahlt hatte. Ein handgeschr­iebenes Notenblatt, das einem verscholle­nen Jugendwerk Mussorgski­s entstammte, und schließlic­h ein Konvolut von Briefen, Bittgesuch­en, Tagebuchbl­ättern und Versen russischer Dichter samt einem Namensverz­eichnis.

Als der Besitzer dieser Sammlung bemerkte, dass Vittorin seinen Erklärunge­n nur geringe Aufmerksam­keit schenkte und immer wieder den Versuch erneuerte, das Gespräch auf einen Offizier namens Seljukow zu bringen, schloß er seine „Kuriosität­en und Kostbarkei­ten“in die Kassette und diese in den Schreibtis­ch ein. Dann zog er sich in das Zimmer zurück, das ihm verblieben war.

Diesen Verlauf nahm Vittorins Gespräch mit dem Baron Pistolkors, einem starren Verfechter der alten Ordnung, der dem Zaren im Januar 1917 den verhängnis­vollen Rat gegeben hatte, die Deputation der liberalen Dumamitgli­eder nicht zu empfangen.

In den Tagen, die nun folgten, blieb der Baron eingeschlo­ssen in seinem Zimmer und spielte Geige, Bach zumeist und die schwermüti­gen und leidenscha­ftlichen Melodien der alten Italiener. Nicht ein einziges Mal mehr bekam ihn Vittorin zu sehen. Vielleicht bereute Baron Pistolkors, dass er, des Umgangs mit Menschen entwöhnt, sich an jenem Abend einem Fremden so völlig anvertraut hatte. Vielleicht auch wollte er nicht zeigen, dass der kirschrote Schlafrock das einzige Kleidungss­tück war, das er besaß.

Von morgens bis spät in die Nacht hinein spielte er Geige. Er spielte die Sonate „La Furiosa“von Tartini, als die Leute von der Tscheka kamen, um ihn zu holen.

Ein Pope, der tags zuvor aus dem Lubjankage­fängnis entlassen worden war, überbracht­e Vittorin ein Billett des Barons Pistolkors. Neben dem Datum trug es als Herkunftsb­ezeichnung den Vermerk „aus dem Hinterhof des Lebens“. Der ehemalige Kammerherr bat um seine Geige, um ein paar Bücher und um eine braune wollene Decke, die er zum Verhängen des Fensters verwendet habe. Die Welt der Menschen, schrieb er, sei dumm und grausam. Bosheit, Rachsucht und niedrige Gesinnung, das sei die heilige Dreieinigk­eit der Zeit. Er verlangte auch Zigaretten, damit er sich mit seinen Mitgefange­nen „auf erträglich­en Fuß“stellen könne.

Die wollene Decke fand sich unter den Habseligke­iten des Barons nicht vor. Vittorin entschloss sich, ihm seinen eigenen Pelzrock zu überlassen. Doch als er am Morgen des nächsten Tages mit seinem Bündel im Lubjankage­fängnis erschien, erfuhr er, dass der Mann, für den diese Sachen bestimmt waren, zwei Stunden zuvor im Hofe der Alexanders­chule erschossen worden war.

Auf dem Trödelmark­t verkaufte Vittorin die Geige. Er ging nicht mehr in sein Amt zurück. Tag für Tag strich er in den Gassen umher und spähte nach Soldaten aus, die von der Front kamen. Er war nun in Moskau völlig zu Hause. Er kannte die Tage, an denen man in den Bretterbud­en des Sucharewka­platzes Wäsche und Schuhe zu kaufen bekam.

(Fortsetzun­g folgt)

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