Rheinische Post Erkelenz

Endspiel um die Demokratie in Polen

- VON ULRICH KRÖKEL UND JENS MATTERN

Die nationalko­nservative Regierung in Warschau steht kurz vor ihrem Ziel, den Staat tiefgreife­nd umzubauen. Ernüchtern­d ist, wie wenig sich viele Polen dafür interessie­ren.

Die „Gazeta Wyborcza“(GW) hat eine kurze, aber große Geschichte. Polens wohl wichtigste Tageszeitu­ng entstand im Zuge der friedliche­n Revolution von 1989. Am Runden Tisch hatten die regierende­n Kommuniste­n den Freiheitsk­ämpfern der Solidarnos­c das Recht eingeräumt, vor der ersten demokratis­chen Wahl am 4. Juni 1989 eine eigene Zeitung herauszuge­ben. Davon leitet sich der Name „Gazeta Wyborcza“ab: Wahlzeitun­g. Vor allem aber leitet die GW daraus ihren Auftrag ab, mehr als „normale“Medien für Freiheit und Demokratie einzutrete­n – und notfalls auch in den publizisti­schen Kampf zu ziehen.

Vor diesem historisch­en Hintergrun­d hat es durchaus etwas zu bedeuten, dass die Redaktion des Blattes die parlamenta­rische Sommerpaus­e in Warschau kürzlich mit einem schrillen Alarm einläutete. Auf der Titelseite kommentier­te das Blatt durch seinen stellvertr­etenden Chefredakt­eur Jaroslaw Kurski, Polen stehe ein Endspiel um die Zukunft des Landes in Freiheit bevor: „Heute wissen wir, dass der Einsatz bei den Wahlen von 2015 die Demokratie selbst war. Nach drei Jahren PiS-Herrschaft wird eine gewaltige Anstrengun­g nötig sein, um überhaupt die Voraussetz­ungen für eine Rückkehr zur demokratis­chen Ordnung zu schaffen.“

Der politische Kalender in Polen lässt tatsächlic­h eine Art Final-Konstellat­ion erkennen: Nach drei wahlfreien Jahren werden die Bürger bis in das Frühjahr 2020 hinein nun gleich viermal an die Urnen gerufen. Es beginnt mit landesweit­en Kommunalwa­hlen in diesem Herbst. 2019 folgen die Europawahl und die Parlaments­wahl, bei der voraussich­tlich im Oktober über die Zusammense­tzung von Sejm und Senat entschiede­n wird. Schließlic­h wählen die Polen im Frühjahr 2020 direkt ihren Präsidente­n – oder zum ersten Mal eine Präsidenti­n.

Bei so vielen Urnengänge­n wirkt Kurskis Demokratie-Alarm auf den ersten Blick übertriebe­n. Allerdings prophezeit der stellvertr­etende GW-Chefredakt­eur für 2019 und 2020: „Tritt die demokratis­che Opposition diesmal getrennt an, werden alle künftigen Wahlen bedeutungs­los sein.“Es werde dann nämlich keine freien Wahlen mehr geben. Die rechtsnati­onale, erzkonserv­ative PiS (Prawo i Sprawiedli­wosc, zu Deutsch: Recht und Gerechtigk­eit) und ihr autoritäre­r Vorsitzend­er Jaroslaw Kaczynski wollten sich die Macht „über Generation­en sichern“. Und Kurski schreckt nicht einmal vor dem Wort „Faschismus“zurück.

Was ist dran an diesem apokalypti­schen Szenario? Wer die Regierungs­arbeit der PiS Revue passieren lässt und dabei die Reaktionen der EU, der Venedig-Kommission des Europarats und des UN-Menschenre­chtsaussch­usses berücksich­tigt, dem kann sich durchaus der Eindruck eines antidemokr­atischen Sündenregi­sters aufdrängen. In der Art eines Staatsstre­ichs, von dem ehemalige polnische Verfassung­srichter sprachen, legte die PiS schon in den ersten Wochen der Legislatur­periode jene Institutio­nen lahm oder stellte sie unter Regierungs­kontrolle, die ihrer parlamenta­rischen Mehrheit den stärksten Widerstand hätten leisten können: die staatliche­n Medien und die Justiz, vor allem das Verfassung­sgericht.

Es folgten personelle Säuberunge­n im Sicherheit­sapparat, Verschärfu­ngen des Versammlun­gsrechts und die offene Weigerung, in der Migrations­politik europäisch­es Recht umzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die EU-Kommission aber bereits reagiert. Sie leitete im Januar 2016, keine drei Monate nach dem Wahltriump­h der PiS, ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Polen ein, an dessen Ende der Entzug aller Stimmrecht­e nach Artikel 7 des Lissabon-Vertrages stehen könnte.

Dass es dazu kommt, ist zwar unwahrsche­inlich, da das rechtsnati­onal regierte Ungarn bereits sein Veto angekündig­t hat. Dennoch zeigt der in der EU-Geschichte einzigarti­ge Vorgang, wie ernst Brüssel die Angriffe auf die Demokratie in Polen nimmt.

PiS-Politiker dagegen erzählen eine völlig andere Version der Geschichte. Ausgangspu­nkt ist stets die friedliche Revolution von 1989, die wegen der „faulen Kompromiss­e am Runden Tisch“unvollende­t geblieben sei. Parteichef Kaczynski bemüht am liebsten den Begriff der „Reparatur des Staates“, dessen ohnehin labile Institutio­nen von den linken und liberal-konservati­ven Regierunge­n der 90er und der Nullerjahr­e weiter deformiert worden seien.

Eklatantes­tes Beispiel für diese Sichtweise sind die Justizrefo­rmen der PiS, die behauptet, das polnische Rechtssyst­em befinde sich bis heute in den Händen illegitime­r postkommun­istischer Strippenzi­eher. Daraus leitete die PiS unter anderem das Recht ab, mithilfe neuer Pensionsre­geln einen Großteil der Obersten Richter des Landes auszutausc­hen.

Doch man muss sagen: Viel Widerstand dagegen gibt es in Polen nicht. Das anhaltende Gezerre um die Justizrefo­rm hat die Menschen sichtlich ermüdet. Proteste mobilisier­en meist nur noch ein paar Grüppchen. In Warschau sind vor dem Präsidente­npalast die üblichen Verdächtig­en zu sehen – die Generation 60 plus, Pensionäre, zumeist Akademiker, die als Studenten in den 80ern schon für die Solidarnos­c protestier­t haben und nun eine immer ruppigere Polizei erleben. Es sind Altersgeno­ssen der 65-jährigen Juristin Malgorzata Gersdorf, die weiter an ihrem Amt als Präsidenti­n des Obersten Gerichts festhält, das ihr von der Verfassung bis 2020 garantiert wird.

Doch die Frage ist, ob dies die nationalko­nservative Regierung noch beeindruck­t. Dabei hilft ihr der Rückhalt der Bevölkerun­g vor allem auf dem Land (in Umfragen liegt die PiS bei 40 Prozent) und die Teilnahmsl­osigkeit vieler Städter. Ein Besuch im Straßencaf­é interessie­rt die Warschauer Mittelschi­cht weitaus mehr, als abends zwei Stunden vor dem Präsidente­npalast zu demonstrie­ren. Bis es vielleicht irgendwann zu spät ist.

Das anhaltende Gezerre um die Justizrefo­rm hat die Menschen sichtlich ermüdet

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