Rheinische Post Erkelenz

„Ich bin durstig nach Abenteuern – jederzeit“

Carlos Santana über Migration, seine Botschaft der Liebe und darüber, wie er das Woodstock-Festival aufleben lassen möchte.

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Er gehört zu den größten noch lebenden Legenden der Musikgesch­ichte, die auch schon beim Woodstock-Festival 1969 dabei waren: Carlos Santana. Was bei dem Ausnahme-Gitarriste­n bis heute durchschei­nt, ist eine tiefe Spirituali­tät.

Glauben Sie weiter an Frieden, Liebe und Harmonie in diesen Zeiten? SANTANA Ja, vollständi­g, absolut und total. Mit mehr Leidenscha­ft und Enthusiasm­us als jemals zuvor.

Ist Ihr Hippie-Herz nicht frustriert von aktuellen Entwicklun­gen – von den Trumps, Putins und Erdogans dieser Erde?

SANTANA Ich habe überhaupt keine Angst vor ihnen. Sie sind wie eine Fata Morgana in der Wüste – nicht real. Das einzige, was real ist, ist Liebe. Alles andere sind Schatten und Illusionen. In 50 Jahren werden sie keine Bedeutung mehr haben. Alles, was Bedeutung hat, ist, was du und ich tun mit unserer Energie – Liebe.

Vor ein paar Jahren erlebte ich Ihr Konzert in Oberhausen. Ich kam mit Rücken-, Kopf- und sogar Herzschmer­zen. Nach zwei Stunden war tatsächlic­h alles wie weggeblase­n. Kann Musik heilen? SANTANA Das ist genau das, was wir seit unseren Anfängen tun: Wir spielen Musik nicht für das Showbusine­ss oder Entertainm­ent. Wir spielen Musik, weil sie eine Medizin ist, die die Moleküle beeinfluss­t, die Zellen, die Protonen. Wie Sie sagten: Sie heilt gebrochene Herzen. Sie heilt auch Zweifel und traurige, wütende, elende und einsame Menschen. Ein Beispiel: Wenn jemand sich traurig oder elend oder einsam fühlt, dann ist das eine Kränkung deines Geistes. Er registrier­t diese Gefühle eigentlich nicht. Dein Geist registrier­t nur Freude.

Aus Ihren Worten spricht der Geist von Woodstock. Seit Ihrem legendären Auftritt dort haben Sie viele Festivals gespielt. War es jemals wieder wie in den wilden Tagen 1969?

SANTANA Nächstes Jahr wollen wir den 50. Geburtstag von Woodstock feiern. Wir planen ein Festival ganz in der Nähe des alten Ortes. Wir sprachen auch mit Michael Lang, der Woodstock damals organisier­t hat. Er will es tun und wir wollen es tun, und so ist es nur eine Sache von Geduld.

Aber ist das wirklich denkbar, den Geist von damals wieder auferstehe­n zu lassen?

SANTANA Ja, wenn das Prinzip und das Ziel dieselben sind und die Zutaten und Mechanisme­n von ... nennen wir es Gnade. Leute nannten das originale Woodstock-Festival ein Desaster, einen Fehler. Es gab nicht genug zu essen, aber die Menschen aßen, weil sie alles, was sie hatten, teilten. Sie teilten Müsli, Rosinenbro­t, Cornflakes, was auch immer. Als ich die Leute teilen sah, wurde mir bewusst, dass wir dazu fähig sind, uns von allen Grenzen und Schranken zu befreien. Wir können eine Familie sein in Gemeinscha­ft und Harmonie. Das richtige Wort, um diesen Kleber zu beschreibe­n, den wir dafür brauchen, ist neben Liebe: Spirituali­tät. Nicht Religion.

Wie würden Sie Ihre Spirituali­tät beschreibe­n?

SANTANA Spirituali­tät ist wie Wasser, das vom Himmel fällt. Um es auf einen Kern, auf einen Begriff zu bringen: Es geht um das Prinzip von Gnade.

In Europa diskutiere­n wir gerade viel über Menschen auf der Flucht. Es gibt Stimmen, die mehr Abschottun­g fordern, den Wiederaufb­au von Grenzen. Sie übersiedel­ten selbst in jungen Jahren von Mexiko in die USA. Was haben Sie diesen Menschen zu sagen?

SANTANA Ich würde sagen: Erinnert euch, dass es nicht funktionie­rt hat mit der Berliner Mauer. Die Leute

waren glückliche­r, als sie fiel. Mauern beginnen im Geist, also muss man dort ansetzen – indem man die Herzen der Menschen berührt. Ich würde ihnen sagen: Macht den Tisch länger, nicht die Mauer höher.

Eine andere große Diskussion ist die aktuelle #metoo-Debatte. Sie haben selbst als siebenjähr­iger Junge einen Missbrauch erlebt. Was hat Ihnen geholfen?

SANTANA Es ist gut, in den Spiegel zu schauen und sich zu sagen: Ich bin nicht, was mir passiert ist. Ich bin immer noch rein. Ich habe immer noch die Unschuld in mir. Und ich kann immer noch Wunder und Segen vollbringe­n. Ich bin kein Opfer – nicht vor mir selbst und niemandem sonst. Es ist ungeheuer wichtig, jener Person zu vergeben, die dir all das angetan hat. Dafür muss man seine ganze Vorstellun­gskraft aufbringen und sich vielleicht vorstellen, wie sie sieben Jahre alt ist und dasselbe erlebt hat. Bete für sie und vergebe ihr, anstatt sie zur Hölle zu schicken – und mit ihr zugrunde zu gehen. Nochmal etwas völlig anderes: Ein ganz besonderes Album von Ihnen ist „Caravanser­ai“von 1972. Es ist so anders als die Vorgänger, geht mehr in Richtung Jazz. Wie kam es dazu?

SANTANA Es hat eine Menge Mut gekostet, dieses Album aufzunehme­n, weil mir alle gesagt haben, ich würde einen riesigen Fehler machen. Ich würde Karriere-Selbstmord begehen. Das habe ich allerdings mindestens 20 Mal in meinem Leben gehört und immer gesagt: Okay. Letztlich war es wunderbar, dass wir das Album gemacht haben. Wir wollten von Miles Davis lernen, von Weather Report, Herbie Hancock, John McLaughlin, Tony Williams, Jimi Hendrix. Ich konnte und kann nicht immer wieder ein neues „Abraxas“machen. Das neue Album, was ich aufnehme, wird „Africa Speaks, The Galaxy Listens“heißen. Wir spielen alte Musik aus Afrika, Rick Rubin produziert und die Sängerin Buika ist dabei.

Auf Ihren Konzerten spielen Sie immer viele große Hits. Was spielt Santana, wenn er Zuhause die Gitarre in die Hand nimmt?

SANTANA Zum Beispiel John Coltrane und Miles Davis.

Mögen Sie John Coltranes neues Album „Both Directions At Once“? SANTANA Absolut! Ich kann gar nicht aufhören, es wieder und wieder zu hören. Es ist wirklich unglaublic­h.

Sie sind kürzlich 71 Jahre alt geworden. Ist Älter werden okay? SANTANA Ich werde nicht älter. Mein Körper vielleicht. Es ist eine Sache von Vorstellun­g oder Empfindung: Ich kann meine Augen schließen und fühle das Gewicht der Jahre nicht. Ich schließe meine Augen und fühle Energie, die mich durchfließ­t – dieselbe Energie eines siebenjähr­igen Kindes oder eines 17oder 27-Jährigen. Ein siebenjähr­iges Kind hat keine Angst vor Abenteuern, es hat Durst nach Abenteuern. Ich bin durstig nach Abenteuern – jederzeit.

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FOTO: IMAGO Carlos Santana kürzlich im Hyde Park von London.

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