Rheinische Post Erkelenz

Triumph der Altmeister

Salzburg: Frank Castorf weitet Romane von Hamsun zum Theatermar­athon, Hans Neuenfels verschärft Tschaikows­kis „Pique Dame“.

- VON REGINE MÜLLER

SALZBURG Die Salzburger Festspiele gelten als glanzvolle­s Klassik-Festival für Kulinarike­r. Dabei gab es immer schon auch ästhetisch­e Unterström­ungen, Sperriges und viel Neutönende­s an der Salzach. Seit Markus Hinterhäus­er das Intendante­n-Zepter übernommen hat, ist der Wille zur auch anstrengen­den Kunst aber wieder deutlicher zu spüren als in den Jahren zuvor.

Auf harten Sitzbänken auf der Perner-Insel fordert nun Frank Castorf dem Festspielp­ublikum mit seiner Adaption von Knut Hamsuns Romanen „Hunger“und „Mysterien“grausame sechs Stunden ab. Erst um 0.30 Uhr bricht sich bei den Verblieben­en

In einer Endlos-Schleife hat Castorf den Roman durch den Reißwolf gejagt

– es gibt zahlreiche Abwanderun­gen – erschöpfte­r Jubel Bahn. In einer Endlosschl­eife hat Castorf erneut Romanstoff durch seinen Dekonstruk­tions-Reißwolf gejagt, neu verquirlt und üppig angereiche­rt mit bewährten Mitteln: den sich entäußernd­en und zugleich Ironie-gestählten Schauspiel-Stars seiner gloriosen Volksbühne­n-Mannschaft, dem suggestive­n Einsatz von Musik zwischen Schubert, Hawaii-Film und Freejazz und raffiniert arrangiert­en Live-Filmeinspi­elungen.

Mit Knut Hamsun knöpft Castorf sich einen heiklen Romancier vor, der den Nazis nahestand, Hitler verehrte und später für sein Mitläufert­um hart belangt wurde. Im titelgeben­den „Hunger“irrt ein mittellose­r Journalist hungernd durch Oslo, in „Mysterien“trägt der reich gewordene Protagonis­t einen kanarienge­lben Anzug und ist nun nicht mehr auf der Suche nach Eßbarem, sondern nach Liebe und Sinn.

Aleksandar Denic hat auf die Drehbühne ein genial verschacht­eltes Holzhaus gebaut, das eine muffige Dachwohnun­g, ein Schreibbür­o, eine Veranda und eine McDonald’s-Küche und eine große Leinwand zur Übertragun­g der Live-Videos bietet. Das Ganze ist garniert mit Nazi-Verweisen, wie etwa dem Schriftzug der Germanske SS Norge oder einem „Carlsberg“-Schild mit Hakenkreuz­en. „Swastika, Swastika!“kreischt dann auch gleich zu Beginn Marc Hosemann, der als Hungernder hetzt, kriecht, schreit und versucht, seinen eigenen Zeigefinge­r zu verspeisen. Später teilen sich alle weiteren sieben Darsteller die Identität des „Mysterien“-Helden und sprechen gelegentli­ch mit sich selbst im Konjunktiv. Castorf betreibt eine Art orgiastisc­he Teufelsaus­treibung, die Hamsun keineswegs rehabiliti­ert, aber ihn hochintere­ssant macht für weitere Erkundunge­n des Subkutanen.

Tags darauf dann im Großen Festspielh­aus Hans Neuenfels’ angeblich letzte Regietat, Tschaikows­kis selten gespielte „Pique Dame“. Kurz vor der Premiere ist Neuenfels allerdings vom Rücktritt zurückgetr­eten, er wird also weitermach­en. Christian Schmidt hat ihm einen schwarzen Raum gebaut, der nicht viel mehr als ein Rahmen mit komfortabl­en Durchgänge­n an der Seite ist.

Die Geschichte des mittellose­n Hermann, der die mit dem reichen Fürsten Jelezki verlobte Lisa liebt und das fehlende Geld am Spieltisch gewinnen will, erzählt Neuenfels als Collage mit harten Brüchen. Das radikal und unbedingt liebende Paar steht einer uniformen Masse Angepasste­r gegenüber, deren limitierte­s Gesten-Vokabular Neuenfels militärisc­h mechanisie­rt. Reinhard von der Thannens Kostüme spitzen diesen Gedanken grotesk zu, hängen Kanonenfut­ter produziere­nden Müttern riesige Brüste um, stecken die Chorherren in lächerlich­e Schwimmanz­üge und stopfen Röcke mit bizarr verschacht­elten Hinterteil­en aus. Zwischen den Welten die greise Gräfin mit Libertinag­e signalisie­render roter Perücke und rosa Strümpfen zum Minikleid.

Grandios taktet Neuenfels die Szenenwech­sel, es grenzt an ein handwerkli­ches Mirakel, wie er riesige Chor-Tableaus nahtlos in psychologi­sch bis ins Letzte ausgefeilt­e intime Szenen übergehen lässt. Dabei hört er vor allem auf die Musik: jeder Blick, jede Geste, jede Bewegung ist motiviert und beglaubigt durch Tschaikows­kis soghafte Musik, was dem ganzen Abend mustergült­ige Klarheit und Triftigkei­t verleiht.

Am Pult der Wiener Philharmon­iker agiert Mariss Jansons als Neuenfels’ Partner auf Augenhöhe und Motor des Dramas. Die Wiener Philharmon­iker klingen transparen­t, trennschar­f, mit ganz frei klingender Eigeniniti­ative und leidenscha­ftlich bis an der Grenze zum Exzess. So aufregend hörte man Tschaikows­ki selten. Gelegentli­ch wird es richtig laut, aber das famose, fast durchweg russische Sänger-Ensemble behauptet sich. Heraus ragen Brandon Jovanovich als selbstzers­törerische­r Hermann, eine Entdeckung ist der balsamisch Bariton von Igor Golovatenk­o in der Rolle des Fürsten Jelitzki, Evgenia Murarveva singt die Partie der Lisa mit loderndem Sopran, und Hanna Schwarz ist eine markante, erstaunlic­h stimmfrisc­he Gräfin.

Ovationen, einzelne Buhs für Neuenfels und seinTeam. Ein großer Wurf.

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FOTO: DPA Brandon Jovanovich (Hermann) und Hanna Schwarz (Gräfin) in der Premiere von „Pique Dame“.
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FOTO: DPA Marc Hosemann in Knut Hamsuns „Hunger“.

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