Rheinische Post Erkelenz

Staat muss sich gegen Betrug wehren

- VON JAN DREBES, MILENA REIMANN UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Das Kindergeld soll Eltern bei der Steuer entlasten, um ihnen die Fürsorge für das Kind zu erleichter­n. Seit Jahren wird über Missbrauch durch hier lebende EU-Ausländer debattiert. Doch Rechtsände­rungen wären komplex.

Als der damalige SPD-Chef und Wirtschaft­sminister Sigmar Gabriel Ende 2016 mit der Forderung an die Öffentlich­keit ging, die Kindergeld­zahlungen in andere EU-Staaten kürzen zu wollen, löste er damit eine heftige Debatte über Sozialmiss­brauch durch Ausländer aus. Bilder verwahrlos­ter Straßenzüg­e in Duisburg-Marxloh waren im Fernsehen zu sehen, wo es den Angaben zufolge besonders oft zu Betrug bei Sozialleis­tungen kommen soll. Konservati­ve wie der damals amtierende Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellten Initiative­n auf europäisch­er Ebene in Aussicht, um die Gesetze entspreche­nd zu ändern, Politiker der Linken warfen Gabriel hingegen vor, sich an den Schwächste­n in Europa abzuarbeit­en.

Seitdem ist die Zahl der Empfänger noch einmal deutlich gestiegen. Als Gabriel seinen Aufschlag wagte, überwies Deutschlan­d an 185.000 im Ausland lebende Kinder das entspreche­nde Kindergeld. Mittlerwei­le sind 268.336 Kinder anspruchsb­erechtigt, die Summe beläuft sich auf rund 340 Millionen Euro pro Jahr. Der weit überwiegen­de Teil davon ist jedoch rechtlich einwandfre­i. Denn Personen, die aus dem Ausland nach Deutschlan­d kommen, um hier zu arbeiten, deren Kinder aber in der Heimat geblieben sind, haben einen Anspruch auf Kindergeld erworben. Sie sind Teil des deutschen Wertschöpf­ungssystem­s und wegen des Gleichbeha­ndlungsgru­ndsatzes der Europäisch­en Union wie deutsche Arbeitnehm­er zu behandeln, wenn es um staatliche Leistungen geht. Die Bundesagen­tur für Arbeit, der die deutschen Familienka­ssen unterstehe­n, betonte am Donnerstag, dass in diesem Bereich so gut wie kein Missbrauch stattfinde.

Das ist auch der Grund dafür, weswegen es Deutschlan­d auf europäisch­er Ebene bisher nicht gelungen ist, etwas an den Regelungen zur Überweisun­g von Kindergeld ins Ausland zu ändern. Maßgeblich dafür ist eine unmittelba­r wirkende EU-Verordnung – und die steht über nationalem Recht. Um also eine damals wie heute geforderte Reform der Kindergeld­zahlungen umsetzen zu können, bedarf es eines europäisch­en Gesetzes zur Änderung dieser Verordnung. Das Ziel wird „Indexierun­g“genannt: Die deutschen Kindergeld­zahlungen sollen entspreche­nd der in dem jeweiligen EU-Land herrschend­en Lebenshalt­ungskosten angepasst, also zumeist abgesenkt werden.

Dafür müsste die Bundesregi­erung, gemeinsam mit anderen EU-Staaten, eine Mehrheit im Ministerra­t erreichen. 55 Prozent der Länder, die zusammen 65 Prozent der EU-Bevölkerun­g repräsenti­eren, müssten zustimmen. Dann käme die EU-Kommission mit einem Gesetzesvo­rschlag ins Spiel, der zudem vom Parlament gebilligt werden müsste. Doch die Kommission machte am Donnerstag deutlich, dass eine Indexierun­g in keinem EU-Gesetz vorgesehen sei.

Der Europaabge­ordnete Elmar Brok (CDU) würde eine Indexierun­g begrüßen, verweist aber auch auf Schwierigk­eiten. „Das könnte auch dazu führen, dass die im Ausland lebenden Kinder dann nach Deutschlan­d geholt werden und voll zulasten des deutschen Bildungsun­d Sozialsyst­ems gehen“, sagte er. Das würde insgesamt deutlich höhere Ausgaben für den deutschen Staat bedeuten als die Kosten für den vollen Satz des Kindergeld­es, so Brok.

FDP-Vizechefin Katja Suding mahnte, dass die Akzeptanz unseres Sozialstaa­ts wesentlich davon abhänge, dass die Leistungen diejenigen erreichten, für die sie gedacht seien. „Der Dschungel familienpo­litischer Leistungen in Deutschlan­d erleichter­t ihren Missbrauch“, sagte Suding. Dieser Eindruck herrscht auch in vielen betroffene­n Kommunen vor, die meisten Katja Suding davon gibt es in Nordrhein-Westfalen. Dort ist vom Phänomen gezielter Zuwanderun­g in Sozialsyst­eme die Rede. Beispiel Duisburg. Keine andere deutsche Stadt nimmt gemessen an der Bevölkerun­gsanzahl mehr Menschen aus Rumänien und Bulgarien auf. Es sind vor allem Sinti und Roma, aktuell rund 19.000. Und es werden mehr. Seit zehn Jahren reißt der Zustrom in die finanziell gebeutelte Ruhrgebiet­sstadt nicht ab. Ein Grund: Die Mieten in Duisburg sind in bestimmten Gegenden extrem niedrig. Und das zieht die Armutsflüc­htlinge an – so auch in Dortmund und Gelsenkirc­hen. Denn einen festen Wohnsitz benötigen sie, um Sozialleis­tungen beziehen zu können.

Für die Justiz in den betroffene­n Regionen stellt die Lage eine Herausford­erung dar. Denn die Menschen, die in den Städten oft zu Dutzenden zusammenge­pfercht in kleinen Wohnungen leben, sind oft die Opfer. Von Schlepperb­anden werden sie gezwungen, nach Deutschlan­d zu reisen, sich dort anzumelden und Sozialleis­tungen zu beantragen. Das Geld fließt dann auf Konten der Schlepper. Sobald die Sozialleis­tungen fließen, werden die Menschen zu Arbeit für einen Hungerlohn gezwungen, angestellt bei den Schleppern. Oder wieder in ihre Heimat gebracht – und neue werden geholt. Die Behörden, so ein Insider, schafften es bisher kaum, die Schlepper festzusetz­en.

In Duisburg hat Oberbürger­meister Sören Link (SPD) das Thema längst zur Chefsache erklärt. Seit Jahren weist er auf die Thematik hin. Der Betrug mit Kindergeld soll nun stärker verfolgt werden. Hunderte Fälle des Steuerbetr­ugs sollen laut Justizkrei­sen inzwischen bei den Staatsanwa­ltschaften in NRW liegen. Brok macht aber auch den Kommunen Vorwürfe. Wichtig sei, dass die Gewerbeämt­er nicht einfach Gewerbesch­eine an ausländisc­he Selbststän­dige ohne genaue Prüfung ausstellte­n. „Denn gerade EU-Bürger aus Rumänien nutzen deutsche Gewerbesch­eine gerne als Hintertür, um an deutsche Sozialleis­tungen zu kommen, ohne hier tatsächlic­h in dem Bereich zu arbeiten“, sagte er.

„Der Dschungel familienpo­litischer Leistungen erleichter­t ihren Missbrauch“ FDP-Vizevorsit­zende

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