Oma erinnert sich, ich höre gerne zu
Erzählbücher regen zu Familien-Gesprächen an. Unsere Autorin hat es probiert.
BORNHEIM Heute bewundere ich meine Oma. Die Bewunderung ist mit den Jahren stetig gewachsen. In meiner Kindheit war sie einfach da. Später war sie nicht nur emotionale Bezugsperson, sondern auch Ressource für schier unerschöpfliches Alltagswissen. Ihre Biografie ist nicht nur die eines mir nahestehenden Menschen, sondern steht exemplarisch für eine Generation von Frauen, die im Nachkriegsdeutschland lebten, arbeiteten und eine Familie gründeten.
Meine Oma, das ist Agnes Schmidt, Mädchenname Klein, geboren 1934 im Sauerland. Volksschulabschluss mit 14, danach Ausbildung als Hauswirtschafterin. 1954 zog sie nach Bonn, 1956 heiratete sie meinen Opa Werner Otto Schmidt, von Beruf Elektriker. Mein Opa war Witwer, brachte drei Kinder mit in die Ehe, es folgten weitere sieben, darunter meine Mutter. Die Großfamilie zog später in ein Reihenhaus in Bornheim im Rheinland. Dort lebt meine Oma heute noch.
Ihr Leben ist exemplarisch und doch anders: Meine Oma war nicht nur Hausfrau und Mutter, sie hat auch immer gearbeitet, weil das Familieneinkommen sonst nicht gereicht hätte. Das ist es, was ich – neben ihren Kochkünsten und ihrem grünen Daumen – am meisten bewundere. Ihr Leben war anstrengend mit der Verantwortung für zehn Kinder und mit einem Mann, der oft arbeiten war. Das hat Spuren hinterlassen – körperliche und seelische.
Ich weiß viel über das Leben meiner Oma. Wir verbringen gerne Zeit miteinander. Im Studium kam ich einmal die Woche zum Essen zu ihr, ich fuhr sie zu Familientreffen mit ihren Geschwistern, Vettern und Cousinen nach Olpe, wir telefonieren regelmäßig und sehen uns, wenn es geht. Wir haben viele gemeinsame Themen: das Kochen, die Familie, das Leben, die Geschichte. Vor allem aber erzählt sie mir gerne von früher und ich höre gerne zu.
Meine These ist, dass es für die Enkelgeneration einfacher ist, auch über Intimes mit den Großeltern zu sprechen. Erstens weil manche Themen weit in der Vergangenheit liegen, zweitens weil man nicht als Sohn oder Tochter fragt und von daher weniger betroffen ist durch manche Antworten. Die Erinnerungsbücher setzen genau dort an. Sie bewahren Familientradition, und jedes ist gleichzeitig ein Mini-Dokument der Alltagsgeschichte.
Es ist, als ob ein unsichtbarer Moderator im Raum wäre und immer eingreifen kann, wenn das Gespräch mal ins Stocken gerät. Im Gespräch zwischen meiner Oma und mir passiert das – zugegeben – fast nie! Im Gegenteil, ich kann gar nicht so schnell mitschreiben, wie meine Oma erzählt. Das Gespräch entwickelt sich wie von allein. Deswegen macht es auch mehr Spaß, sich einfach treiben zu lassen, als stur jede Frage abzuarbeiten.
Immer wieder erzählt sie begeistert von ihrer Zeit als Krankenschwester in einer Bonner Kinderklinik 1954 bis 1956. Damals genoss sie das Leben, ging tanzen, und jeden Sonntag mit ihren Kolleginnen essen. Sie hat gern dort gearbeitet. 50 Pfennig die Stunde verdiente sie. Das war viel, denn Ausgaben für Lebenshaltung hatte sie keine. Sie wohnte in einer Dachkammer der Klinik. Im Frühling konnte sie durch ihr Fenster die blühenden Kastanienbäume sehen. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte meine Oma damals schon gekannt. Wir wären bestimmt Freundinnen gewesen.