Rheinische Post Erkelenz

Bei Luftangrif­fen suchte die Bevölkerun­g Schutz in Kellern

- VON WOLFGANG HELLFRISCH

LÜRRIP Über den Zweiten Weltkrieg erfahren junge Leute heute im Fernsehen durch alte Wochenscha­uaufnahmen und etwas in der Schule. Ich dagegen erlebte mit meinen vier Jahren das volle Programm vom Kriegsbegi­nn bis zur Kapitulati­on Deutschlan­ds und der Japans. Da war ich zehn Jahre alt. Zuerst spürte ich den Krieg nur an der Verknappun­g und Rationieru­ng der Lebensmitt­el und an der Einführung von Lebensmitt­elkarten. Unser gutmütiger und immer freundlich­er Bäcker, bei dem ich morgens schon ganz alleine unsere Frühstücks­brötchen einkaufen gehen durfte, mutierte über Nacht vom Bäcker mit berufstypi­scher Bäckerjack­e und Bäckermütz­e zur Respektspe­rson in Uniform. In seiner braunen Uniform mit dem straff gespannten Gürtel wirkte er ziemlich beeindruck­end auf mich.

Bald kamen Männer in unseren Keller und verstärkte­n ihn mit einem Dutzend Baumstämme­n, die sie zwischen Kellerbode­n und Kellerdeck­e verkeilten. Sie malten in großen weißen Lettern „VL“außen ans Haus. Die Baumstämme sollten die Kellerdeck­e bei Bombenvoll­treffern vor dem Einsturz bewahren und das VL den Rettungsma­nnschaften signalisie­ren, dass der Luftschutz­keller vorne links unter den Trümmern liegt. V, L, H und R für vorne rechts, hinten links und hinten rechts waren die ersten Buchstaben, die ich lange vor meiner Einschulun­g lernte.

Ich musste mich an das Sirenenger­äusch gewöhnen, das Fliegerang­riffe ankündigte, an die nächtliche­n schlaftrun­kenen Abstiege in den Keller, an das unbequeme Schlafen auf strohgefül­lten, piksenden Matratzen in unbehaglic­hen modrig klammen Etagenbett­en, an das Furcht einflößend­e Dröhnen der Flugzeuge, an das Abwehrfeue­r der Flak und an die Erschütter­ungen des Kellers bei nahen Bombeneins­chlägen. Nach den Angriffen und der anschließe­nden Entwarnung führte mich mein Vater ans Fenster und zeigte mir den vom Feuerschei­n der Brände geröteten Himmel über Gladbach. Einmal sah ich in nur 250 Metern Entfernung eine Textilfabr­ik niederbren­nen, nicht ahnend, dass ich drei Jahrzehnte später auf eben diesem Areal das Haus bauen würde, in dem ich diese Worte schreibe. Grabe ich heute etwas tiefer im Garten, erinnern mich zahlreichl­iche Ziegelstei­ne und andere Funde an jene Fabrikruin­e.

Eines Nachts brachte sich während eines Bombenangr­iffs unser Blockwart in unserem Haus in Sicherheit und verkündete den im Keller vor Angst Schlottern­den pausenlos seine albernen Durchhalte­parolen, worauf mein Vater als Hausherr ihm das Wort entzog und ihm eine gehörige Tracht Prügel anbot. Dafür wurde mein Vater am nächsten Tag abgeholt, um in ein Konzentrat­ionslager überstellt zu werden, was unser offensicht­lich immer noch recht kundenfreu­ndlicher Bäcker zu verhindern wusste.

Als die Bombenangr­iffe immer öfter gegen Wohngebiet­e geflogen wurden, mieteten wir nahe des Lürriper Luftschutz­bunkers ein Zimmer an der Falkenstra­ße, das wir jeden Abend aufsuchten, um uns bei Fliegerala­rm im Bunker in Sicherheit bringen zu können, ehe die Bomber die Stadt erreichten. Der Bunker war meist schon rappelvoll, weil andere abends gleich in den Bunker gingen, ohne erst Fliegerala­rm abzuwarten, und alle Feldbetten belegt. Ich musste manche Nacht in einer unbequemen, halb liegenden, halb sitzenden Stellung auf dem kalten Beton der Treppenstu­fen schlafen.

Meine Mutter besaß eine Nähmaschin­e mit einem winzigen Schublädch­en für Fingerhüte, Nähnadeln und Garn, und dort fand ich eines Tages zwischen einer Menge abgeschnit­tener Fäden verborgen und vergessen zwei klitzeklei­ne Stückchen Schokolade. Das war vielleicht ein unerwartet­er Festschmau­s für mich und die einzige Schokolade, die ich während der sechs Kriegsjahr­e bekam.

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