Bei Luftangriffen suchte die Bevölkerung Schutz in Kellern
LÜRRIP Über den Zweiten Weltkrieg erfahren junge Leute heute im Fernsehen durch alte Wochenschauaufnahmen und etwas in der Schule. Ich dagegen erlebte mit meinen vier Jahren das volle Programm vom Kriegsbeginn bis zur Kapitulation Deutschlands und der Japans. Da war ich zehn Jahre alt. Zuerst spürte ich den Krieg nur an der Verknappung und Rationierung der Lebensmittel und an der Einführung von Lebensmittelkarten. Unser gutmütiger und immer freundlicher Bäcker, bei dem ich morgens schon ganz alleine unsere Frühstücksbrötchen einkaufen gehen durfte, mutierte über Nacht vom Bäcker mit berufstypischer Bäckerjacke und Bäckermütze zur Respektsperson in Uniform. In seiner braunen Uniform mit dem straff gespannten Gürtel wirkte er ziemlich beeindruckend auf mich.
Bald kamen Männer in unseren Keller und verstärkten ihn mit einem Dutzend Baumstämmen, die sie zwischen Kellerboden und Kellerdecke verkeilten. Sie malten in großen weißen Lettern „VL“außen ans Haus. Die Baumstämme sollten die Kellerdecke bei Bombenvolltreffern vor dem Einsturz bewahren und das VL den Rettungsmannschaften signalisieren, dass der Luftschutzkeller vorne links unter den Trümmern liegt. V, L, H und R für vorne rechts, hinten links und hinten rechts waren die ersten Buchstaben, die ich lange vor meiner Einschulung lernte.
Ich musste mich an das Sirenengeräusch gewöhnen, das Fliegerangriffe ankündigte, an die nächtlichen schlaftrunkenen Abstiege in den Keller, an das unbequeme Schlafen auf strohgefüllten, piksenden Matratzen in unbehaglichen modrig klammen Etagenbetten, an das Furcht einflößende Dröhnen der Flugzeuge, an das Abwehrfeuer der Flak und an die Erschütterungen des Kellers bei nahen Bombeneinschlägen. Nach den Angriffen und der anschließenden Entwarnung führte mich mein Vater ans Fenster und zeigte mir den vom Feuerschein der Brände geröteten Himmel über Gladbach. Einmal sah ich in nur 250 Metern Entfernung eine Textilfabrik niederbrennen, nicht ahnend, dass ich drei Jahrzehnte später auf eben diesem Areal das Haus bauen würde, in dem ich diese Worte schreibe. Grabe ich heute etwas tiefer im Garten, erinnern mich zahlreichliche Ziegelsteine und andere Funde an jene Fabrikruine.
Eines Nachts brachte sich während eines Bombenangriffs unser Blockwart in unserem Haus in Sicherheit und verkündete den im Keller vor Angst Schlotternden pausenlos seine albernen Durchhalteparolen, worauf mein Vater als Hausherr ihm das Wort entzog und ihm eine gehörige Tracht Prügel anbot. Dafür wurde mein Vater am nächsten Tag abgeholt, um in ein Konzentrationslager überstellt zu werden, was unser offensichtlich immer noch recht kundenfreundlicher Bäcker zu verhindern wusste.
Als die Bombenangriffe immer öfter gegen Wohngebiete geflogen wurden, mieteten wir nahe des Lürriper Luftschutzbunkers ein Zimmer an der Falkenstraße, das wir jeden Abend aufsuchten, um uns bei Fliegeralarm im Bunker in Sicherheit bringen zu können, ehe die Bomber die Stadt erreichten. Der Bunker war meist schon rappelvoll, weil andere abends gleich in den Bunker gingen, ohne erst Fliegeralarm abzuwarten, und alle Feldbetten belegt. Ich musste manche Nacht in einer unbequemen, halb liegenden, halb sitzenden Stellung auf dem kalten Beton der Treppenstufen schlafen.
Meine Mutter besaß eine Nähmaschine mit einem winzigen Schublädchen für Fingerhüte, Nähnadeln und Garn, und dort fand ich eines Tages zwischen einer Menge abgeschnittener Fäden verborgen und vergessen zwei klitzekleine Stückchen Schokolade. Das war vielleicht ein unerwarteter Festschmaus für mich und die einzige Schokolade, die ich während der sechs Kriegsjahre bekam.