Der Sound vom Niederrhein
Ein Festival als Experimentierfeld: Wie weit darf man ein Publikum führen? Die Macher des Haldern Pop haben in diesem Jahr noch mehr als früher auf einen wilden Mix der Spielarten gesetzt. Der Weg ist ein Wagnis.
HALDERN Um die Wirkung dieses Festivals zu begreifen, muss man sich umschauen auf dem großflächigen Areal des Halderner Reitplatzes. Da stehen tausende Zuschauer Jahr für Jahr auf einer oft matschigen Wiese und hören Bands zu, die aus aller Menschen Länder an den Niederrhein kommen und Musik machen, die nicht den Hörgewohnheiten entspricht. Man sieht lokale Politiker und Vertreter der regionalen Wirtschaft. Das Haldern-Pop-Festival ist längst auch ein Ort, an dem man gesehen wird. Wer hingeht, liefert ein Bekenntnis zum Niederrhein ab.
Das Team um Strippenzieher Stefan Reichmann weiß um diesen Ruhm und geht dennoch bei der Bandauswahl immer häufiger den risikoreichen Weg zu den Grenzen der Musik. So herausfordernd wie jetzt war Haldern Pop selten. Man wagte einen Blick ins Zukunftslabor der Musik.
Es gibt viele schöne Geschichten von den Auftritten der Künstler. Samstagabend, Hauptbühne: Dort steht mit den The Lemon Twigs eine New Yorker Band, die mit exaltierter Bühnenpräsenz und einem wilden Stilmix von Beatles über Queen bis zur Rocky Horror Picture Show zu überraschen weiß. Der Gitarrist wirft ständig sein linkes Bein in die Luft, als habe er einen Krampf. Seine blasse Hautfarbe lässt ahnen, dass sein Lebensmittelpunkt die Nacht ist. In Haldern dürfen die Lemon Twigs in der prallen Abendsonne spielen. Wie man da so steht und den Gebrüdern Brian und Michael D‘Addario lauscht, denkt man: ganz schön mutig.
Das ist Haldern Pop anno 2018: den Konsens immer leicht verschieben. Viel Jazz, neue Klassik und frischen HipHop hört man in diesem, im Jugendheim spielt am Samstag der Schweizer Julian Sartorius zur Mittagsstunde sogenannte Field Recordings, Töne, die er in der Schweiz am Straßenrand aufgenommen hat. Ist das noch Pop? Zu späterer Stunde tritt dann die australische Band King Gizzard And The Lizard Wizzard auf. Kennt in Deutschland kaum jemand, darf dennoch den Hauptact geben: Auf einer riesigen Videoleinwand hinter den Musikern sieht man verstörende Videofilmchen in grellen Farben. So wird es sich wohl anfühlen, wenn man zu viele schlechte Drogen genommen hat. Dazu spielen die Männer einen kräftig-lauten Lärm-Rock, der von einem Teil der Besucher gefeiert wird. Aber: Der andere Teil der Besucher ist abgewandert. So geht das drei Tage lang: Es steht zwar immer Publikum vor der Hauptbühne, aber den alle anziehenden Künstler gibt es diesmal nicht.
Beim Festival gibt es jedoch nicht nur einen Spielort: Es gibt das benachbarte Spiegelzelt, die HaldernPop-Bar, die Kirche St. Georg und das katholische Jugendheim, dazu ein kleines Zelt im hinteren Bereich des Festivalgeländes. Hier kann man auf Entdeckungstour gehen. Die Australierin Sampa The Great, der Rapper Austronautalis aus Minneapolis, die Deutschpunkband Love A und der amerikanische Songwriter Kevin Morby mit einem Slacker-Medley haben denkwürdige Konzerte gespielt. Diese Überraschungsmomente beim Festival sind nur möglich, weil die Grenzen
so weit gesteckt sind.
Und dann sind da die Konzerte von Bands, die man in Haldern kennt: Gisbert zu Knyphausen, Sleaford Mods und Kettcar. Letztere liefern einen Auftritt, der in Erinnerung bleiben wird. Kettcars neues Album „Ich vs. Wir“ist ein Statement zum Deutschland im Jahr 2018, der Song „Sommer 89“erzählt die Geschichte eines Hamburger Flüchtlingshelfers, der DDR-Bürgern über die Grenze hilft. Marcus Wiebusch und Band agieren zwar manchmal überdeutlich als Politiklehrer der Nation, aber wenn Wiebusch Sätze sagt wie: „Humanismus ist nicht verhandelbar“, dann will man das unterschreiben.
Auch Haldern hat Flüchtlinge aufgenommen. Sie leben in einem Bundeswehrdepot am Ortsrand nahe des Festivals. Das Zusammenleben gestaltete sich nicht immer problemfrei, und doch setzt das Festival ein Bekenntnis damit, auf einer Podiumsdiskussion die Staatssekretärin Serap Güler und den NRW-Chefintegrator Aladin El-Mafaalani reden zu lassen. Motto: „Das Fremde hat uns stets bereichert.“
Man darf davon ausgehen, dass die Halderner damit auch eine musikalische Botschaft haben aussenden wollen.