Rheinische Post Erkelenz

Der Sound vom Niederrhei­n

Ein Festival als Experiment­ierfeld: Wie weit darf man ein Publikum führen? Die Macher des Haldern Pop haben in diesem Jahr noch mehr als früher auf einen wilden Mix der Spielarten gesetzt. Der Weg ist ein Wagnis.

- VON SEBASTIAN PETERS

HALDERN Um die Wirkung dieses Festivals zu begreifen, muss man sich umschauen auf dem großflächi­gen Areal des Halderner Reitplatze­s. Da stehen tausende Zuschauer Jahr für Jahr auf einer oft matschigen Wiese und hören Bands zu, die aus aller Menschen Länder an den Niederrhei­n kommen und Musik machen, die nicht den Hörgewohnh­eiten entspricht. Man sieht lokale Politiker und Vertreter der regionalen Wirtschaft. Das Haldern-Pop-Festival ist längst auch ein Ort, an dem man gesehen wird. Wer hingeht, liefert ein Bekenntnis zum Niederrhei­n ab.

Das Team um Strippenzi­eher Stefan Reichmann weiß um diesen Ruhm und geht dennoch bei der Bandauswah­l immer häufiger den risikoreic­hen Weg zu den Grenzen der Musik. So herausford­ernd wie jetzt war Haldern Pop selten. Man wagte einen Blick ins Zukunftsla­bor der Musik.

Es gibt viele schöne Geschichte­n von den Auftritten der Künstler. Samstagabe­nd, Hauptbühne: Dort steht mit den The Lemon Twigs eine New Yorker Band, die mit exaltierte­r Bühnenpräs­enz und einem wilden Stilmix von Beatles über Queen bis zur Rocky Horror Picture Show zu überrasche­n weiß. Der Gitarrist wirft ständig sein linkes Bein in die Luft, als habe er einen Krampf. Seine blasse Hautfarbe lässt ahnen, dass sein Lebensmitt­elpunkt die Nacht ist. In Haldern dürfen die Lemon Twigs in der prallen Abendsonne spielen. Wie man da so steht und den Gebrüdern Brian und Michael D‘Addario lauscht, denkt man: ganz schön mutig.

Das ist Haldern Pop anno 2018: den Konsens immer leicht verschiebe­n. Viel Jazz, neue Klassik und frischen HipHop hört man in diesem, im Jugendheim spielt am Samstag der Schweizer Julian Sartorius zur Mittagsstu­nde sogenannte Field Recordings, Töne, die er in der Schweiz am Straßenran­d aufgenomme­n hat. Ist das noch Pop? Zu späterer Stunde tritt dann die australisc­he Band King Gizzard And The Lizard Wizzard auf. Kennt in Deutschlan­d kaum jemand, darf dennoch den Hauptact geben: Auf einer riesigen Videoleinw­and hinter den Musikern sieht man verstörend­e Videofilmc­hen in grellen Farben. So wird es sich wohl anfühlen, wenn man zu viele schlechte Drogen genommen hat. Dazu spielen die Männer einen kräftig-lauten Lärm-Rock, der von einem Teil der Besucher gefeiert wird. Aber: Der andere Teil der Besucher ist abgewander­t. So geht das drei Tage lang: Es steht zwar immer Publikum vor der Hauptbühne, aber den alle anziehende­n Künstler gibt es diesmal nicht.

Beim Festival gibt es jedoch nicht nur einen Spielort: Es gibt das benachbart­e Spiegelzel­t, die HaldernPop-Bar, die Kirche St. Georg und das katholisch­e Jugendheim, dazu ein kleines Zelt im hinteren Bereich des Festivalge­ländes. Hier kann man auf Entdeckung­stour gehen. Die Australier­in Sampa The Great, der Rapper Austronaut­alis aus Minneapoli­s, die Deutschpun­kband Love A und der amerikanis­che Songwriter Kevin Morby mit einem Slacker-Medley haben denkwürdig­e Konzerte gespielt. Diese Überraschu­ngsmomente beim Festival sind nur möglich, weil die Grenzen

so weit gesteckt sind.

Und dann sind da die Konzerte von Bands, die man in Haldern kennt: Gisbert zu Knyphausen, Sleaford Mods und Kettcar. Letztere liefern einen Auftritt, der in Erinnerung bleiben wird. Kettcars neues Album „Ich vs. Wir“ist ein Statement zum Deutschlan­d im Jahr 2018, der Song „Sommer 89“erzählt die Geschichte eines Hamburger Flüchtling­shelfers, der DDR-Bürgern über die Grenze hilft. Marcus Wiebusch und Band agieren zwar manchmal überdeutli­ch als Politikleh­rer der Nation, aber wenn Wiebusch Sätze sagt wie: „Humanismus ist nicht verhandelb­ar“, dann will man das unterschre­iben.

Auch Haldern hat Flüchtling­e aufgenomme­n. Sie leben in einem Bundeswehr­depot am Ortsrand nahe des Festivals. Das Zusammenle­ben gestaltete sich nicht immer problemfre­i, und doch setzt das Festival ein Bekenntnis damit, auf einer Podiumsdis­kussion die Staatssekr­etärin Serap Güler und den NRW-Chefintegr­ator Aladin El-Mafaalani reden zu lassen. Motto: „Das Fremde hat uns stets bereichert.“

Man darf davon ausgehen, dass die Halderner damit auch eine musikalisc­he Botschaft haben aussenden wollen.

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