Schönes Scheitern mit Marthaler
Bei der Ruhrtriennale wurde jetzt „Universe, Incomplete“grandios uraufgeführt.
BOCHUM Auf die Frage, was wir Menschen sind, gibt es keine Antwort. Unser Wissen darüber muss unvollständig bleiben – wie das utopische Projekt einer „Universe Symphony“des US-Komponisten Charles Ives. In den Skizzenblättern fand sich nach Ives Tod 1954 jedoch eine verführerische Aufforderung: „Vielleicht findet sich jemand anderes, der den Versuch unternimmt, meine Gedanken auszuarbeiten.“Ein poetischer und bei aller Gigantomanie klar fokussierter Versuch, der das unweigerliche Scheitern schon im Namen trägt, kam jetzt bei der Ruhrtriennale zur Uraufführung: Christoph Marthalers „Universe, Incomplete“.
Marthalers zweieinhalb Stunden Musiktheater sind ein Beweis für Stefanie Carps gelungene Programmierung des Festivals. Der Regisseur folgt dem Gründungsgedanken des ersten Ruhrtriennale-Chefs Gerard Motier, wenn er eine künstlerische Grenzen sprengende Kreation aus Musik, Theater und Tanz mit einer unbändigen Lust und Faszination für ein Industriedenkmal des Ruhrgebiets kombiniert. Er schenkt dem Publikum, das auf einer hohen Tribüne sitzt, einen lange nicht möglich gewesenen Blick auf die komplette Jahrhunderthalle Bochum, die meist in mehrere Räume aufgeteilt ist.
Dort nimmt das Publikum eine ähnliche Perspektive ein, wie Ives sie in einer Kindheitserinnerung beschrieben hat: Da hörte er von einem Hügel aus mehrere Kapellen parallel spielen. Die Menschen in der Jahrhunderthalle hören eine stimmige Collage aus seinen Kompositionen: Ein Duo zweier Klaviere, die einen Viertelton auseinander gestimmt sind, ein Streichquartett, einen Satz aus seiner vierten Symphonie, Fragmente der Universe Symphonie, deren langes, polyrhythmisches Schlagwerk-Intro Musiker auf Beleuchtungsstegen spielen.
Marthaler leistet es sich, den riesigen Klangkörper der Bochumer Symphoniker unter der Leitung von Titus Engel erst in der zweiten Hälfte einzusetzen – und auch dann vor den Blicken der Publikums zu verbergen. Die Darsteller, die vorher in Texten und tänzerischen Gesten den unsicheren Stand des Menschen zwischen den Forderungen der Vergangenheit und der ungewissen Zukunft bebildert haben, blicken am Ende in Richtung Hallenhimmel; staunend, fragend, erschrocken. Das unsichtbare Orchester und im riesigen Raum verteilte Bläser spielen Ives „The Unanswered Question“.So unter die Haut gehend hat man diese enigmatische Komposition wohl noch nie vernommen.