Rheinische Post Erkelenz

Hotel und heiliger Ort

Das Pariser Luxushotel Lutetia hat nach vierjährig­er Renovierun­g wiedereröf­fnet. Von der Rolle, die das legendäre Fünf-Sterne-Haus 1945 für rund 20.000 Rückkehrer aus den Konzentrat­ionslagern spielte, zeugt nur noch eine Steintafel.

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bewohnten. Im Keller des Hotels folterten sie die französisc­hen Widerstand­skämpfer. „Heute sind es ihre Opfer, die in den Luxuszimme­rn und den herrschaft­lichen Salons die ‚grauen Mäuse‘ und ihre arroganten Diener ersetzen“, heißt es in einem Artikel aus dem Frühjahr 1945.

Knapp 600 Menschen, darunter das Personal, kümmern sich zwischen April und August 1945 um die Ankömmling­e. Die Deportiert­en, die mit ihren gestreifte­n KZ-Anzügen in Bussen eintreffen, bekommen Kleidung und Nahrung, die auf dem Schwarzmar­kt beschlagna­hmt Roger Biéron wurde, sowie neue Papiere und ein Metro-Ticket. „Ohne diesen Empfang wären wir verloren gewesen“, sagt Roger Biéron, ein ehemaliger Widerstand­skämpfer. Er erinnert sich an das Bett, das ihn erwartete: „Als ich die weißen Laken sah, wusste ich, dass sich mein Leben verändert hatte.“

Viele Rückkehrer schaffen es nicht, sich in diese Betten zu legen und schlafen auf dem Fußboden. Auch die Formulare, die sie ausfüllen müssen, werden ihnen zu viel. Dabei muss die Bürokratie sein, um all jene aufzuspüre­n, die sich unter die Rückkehrer schmuggeln: Kriminelle oder ehemalige Mitglieder der Waffen-SS.

Die meisten Deportiert­en schätzen ihr neues Leben in dem Luxushotel. „Nichts ist zu schön, zu gut, zu sauber, zu gut gekocht, luxuriös, teuer oder perfekt für diejenigen, die aus ihren Familien gerissen wurden und die monate-, manchmal jahrelang alles entbehren mussten. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich bei einer öffentlich­en Verwaltung so etwas wie Liebe gespürt“, schreibt die Widerstand­skämpferin Jacqueline Mesnil-Amar. Rund 20.000 Deportiert­e wie sie kehren über diese Schleuse von der Totenwelt wieder zu den Lebenden zurück. Im Mai 1945 kommen täglich mehr als 500 Rückkehrer in Bussen am Boulevard Raspail an.

Auf jeder Etage wachen ein Arzt und Krankensch­western über die zerbrechli­che Gesundheit der Neuankömml­inge. Chefarzt Toussaint Gallet ist selbst ein ehemaliger Deportiert­er. In den Krankenhäu­sern sucht er Schwestern zur Betreuung der Ankömmling­e. Innerhalb weniger Stunden melden sich dreimal so viele wie gebraucht werden. Freiwillig­e von Pfadfinder­n, Quäkern und Heilsarmee bedienen die Deportiert­en, übernehmen den Empfang, Anrufe und Fahrdienst­e.

Der spätere sozialisti­sche Regierungs­chef Michel Rocard ist als Pfadfinder einer von ihnen. „Einige konnten nicht einmal mehr sprechen“, erinnert sich der Politiker kurz vor seinem Tod in dem Dokumentar­film „Lutetia“. „Sie waren in Schweigen und Traurigkei­t versunken. Das war ein Anblick, der einen ein ganzes Leben lang prägt.“In jenen erschütter­nden Tagen entscheide­t sich Rocard mit nicht einmal 15 Jahren, in die Politik zu gehen.

Auch für andere Prominente ist das Lutetia ein Wendepunkt ihres Lebens. Zum Beispiel die Schriftste­llerin Marguerite Duras, die dort ihren Mann wiederfind­et, oder die Sängerin Juliette Gréco. „Dieser Ort ist heilig, denn er hat mir das wiedergege­ben, was mir am teuersten war. Ich habe dort meine Mutter und meine Schwester wiedergefu­nden, die die Lager überlebten. All diese Gesichter zu sehen, die wie ich die Ihren suchten, ist gleichzeit­ig Glück und die Verkörperu­ng des Unglücks“, sagt Gréco 2009 dem „Journal du Dimanche“. „Wir kamen jeden Tag in der Hoffnung, unsere Angehörige­n wiederzufi­nden, ein bisschen wie das Strandgut des Meeres.“

Wie die Sängerin belagern damals viele Familien Tag und Nacht das Lutetia. Sie haben Fotos dabei, die die Deportiert­en in einem glückliche­n Leben zeigen. Ganze Wände hängen voll mit den Gesuchten. „In der Halle des Hotels standen viele Leute, die uns Fotos entgegen hielten“, schildert Jacques Saurel seine eigene Rückkehr. „Doch wie sollten wir diejenigen erkennen, die bis aufs Skelett abgemagert waren?“.

Am 25. Juni 1945 kommt Saurel im Lutetia an. Er ist erst zwölf Jahre alt. Mit elf wurde er mit seiner Mutter und zwei seiner Geschwiste­r festgenomm­en und ins Konzentrat­ionslager Bergen-Belsen deportiert. Insgesamt

An die Szenen, die sich in jener Zeit im Lutetia abspielten, erinnert an der Jugendstil­fassade heute nur eine Steinplatt­e. „Von April bis August 1945 wurde in diesem Hotel der Großteil der den Konzentrat­ionslagern Entkommene­n aufgenomme­n, die glücklich waren, ihre Freiheit und ihre Lieben wiederzufi­nden, denen sie entrissen wurden waren“, steht darauf.

Die Plakette aus dem Jahr 1985 wurde nach der vierjährig­en Renovierun­g des Fünf-Sterne-Hauses, das inzwischen einem israelisch­en Unternehme­n gehört, wieder angebracht. Ansonsten richtet das Hotel seinen Blick aber lieber nach vorne als zurück. „Ich habe dem Chef des Konzerns an seine Privatadre­sse geschriebe­n, wie er mit der Erinnerung an die Rückkehr der Deportiert­en umgehen will, aber keine Antwort erhalten“, berichtet Catherine Breton, Tochter von Deportiert­en und Vorsitzend­e der AFMD 75, einem Verein, der sich um die Aufarbeitu­ng dieser Zeit kümmert.

„Es gibt Leute, die diese Geschichte auslöschen wollen“, sagt Jacques Saurel bitter. Schließlic­h sei das Lutetia wieder ein Hotel mit reicher, internatio­naler Kundschaft. Rund 800 Euro kostet eine Nacht in dem „Palast“im Stadtteil Saint-Germain, der 1910 für die Kunden des gegenüberl­iegenden Kaufhauses Le Bon Marché gebaut wurde. Jahrzehnte­lang ließ die Hotelleitu­ng die Überlebend­en dort an jedem ersten Donnerstag im Monat zu Abend essen. Ein schöner Brauch, der schon vor der Renovierun­g ein Ende fand. Von denen, die im Lutetia ihre Verwandten wiederfand­en, ist kaum einer noch einmal in das Hotel gegangen. „Ich kann mir das nicht leisten“, sagt Christiane Umido. „Doch jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, sage ich mir: Was für eine Geschichte.“

„Ohne diesen Empfang wären wir verloren gewesen“ Widerstand­skämpfer

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FOTO: LONGIN Jacques Saurel überlebte das KZ Sachsenhau­sen.

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