Rheinische Post Erkelenz

Mit Schweinsor­den zum Schützenfe­st

Am Wochenende ziehen 7705 Marschiere­r durch Neuss. Wer im letzten Jahr passen musste, ist die „Zugsau“.

- VON LUDGER BATEN

NEUSS Michael Faller (52) wird wie alle Schützen Orden und Ehrenzeich­en an seiner Uniform tragen. Doch ein „Schwein“macht den Unterschie­d. Nur vor seiner Brust baumelt an einer Kette unübersehb­ar ein Metall-Emblem, das ein Schweinche­n (Foto) zeigt. „Ich bin die Zugsau“, sagt Faller und fremdelt offenbar noch mit seinem neuen ständigen Begleiter. Sein „Wappentier“schmückt ihn während des Schützenfe­stes, das die Neusser von Freitag bis Dienstag feiern.

Im Vorjahr musste Faller beim Schützenfe­st einen Tag aussetzen. Auch ein wichtiger persönlich­er Grund schützte ihn vor der Höchststra­fe nicht. „Aber was ist schon fair, und was ist unfair“, sagt Faller und fügt sich in sein Schicksal; ein Schicksal, das er mit vielen augenzwink­ernd teilt. Jeder der mehr als 300 Züge im Neusser Schützenre­giment leistet sich eine Zugsau, die in etwa die Rolle spielt, die beim Kegeln der Pudelkönig übernimmt. Die Zugsau ist der Gegenentwu­rf zum Zugkönig, der wie jeder Schützenkö­nig Würde ausstrahlt und dem Respekt gezollt wird. Die Zugsau aber ist der Narr, der an Grenzen schützenfe­stlicher Normen und Regeln rüttelt. Sein Feiermotto: „Soviel Disziplin wie nötig. So viel Freude wie möglich.“Das Spiel mit und um die Zugsau ist so ambivalent wie das Leben: Nichts und niemand ist nur gut, nichts ist nur schlecht.

Alljährlic­h am letzten August-Wochenende ziehen Sappeure, Grenadiere, Jäger oder Reiter durch Neuss, die 160.000 Einwohner zählende Stadt mit mehr als 2000-jähriger Geschichte. 7705 Schützen und Musiker – so viele wie nie – werden es in diesem Jahr sein, die Neuss bis Dienstag in ein Königreich verwandeln.

Zu den Besuchern zählt auch Ministerpr­äsident Armin Laschet, der mit dem Mainzer Bischof Peter Kohlgraf und dem Präsidente­n der IHK Mittlerer Niederrhei­n, Elmar te Neues, das Trio der Einmaligen Ehrengäste am Sonntag zur großen Königspara­de bildet. Laschet ist erst der zweite nordrhein-westfälisc­he Landesvate­r, der als offizielle­r Ehrengast mit den Neusser Schützen feiert. Von seinen zehn Vorgängern nahm lediglich Karl Arnold die Parade ab. An der Spitze der Schützen steht das festleiten­de Komitee. Erstmals als Präsident amtiert Martin Flecken, dessen Großvater Adolf zunächst Innen- und später Finanzmini­ster im Kabinett von Karl Arnold war. Höchster Repräsenta­nt ist Schützenkö­nig Georg Martin, der mit seiner Königin Angelika Kunz regiert.

König, Komitee und prominente Gäste verleihen dem Schützenfe­st Glanz über die Stadtgrenz­en hinaus. Das mag Marketings­trategen erfreuen, die Mehrheit der Schützen aber ist sich selbst genug. Sie wollen im Freundeskr­eis, Zug genannt, feiern: Klassentre­ffen, Familienfe­ier, Nachbarsch­aftsfest, Netzwerken – von allem ein bisschen. Hierarchie­n aufzuheben, sich über „die da oben“zu amüsieren und den kleinen Revoluzzer, der in jedem steckt, auszuleben, das gehört zum Spiel der Neusser Männer. So verwandelt sich die Zugsau von der Strafe zur Belohnung. Michael Faller hat’s begriffen: „Ob Du pünktlich bist oder zu spät kommst, Du hast nie eine Chance.“Schützenfe­st als Persiflage: Was aussieht wie eine Strafe nach objektiven Kriterien, ist in Wahrheit pure Willkür.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany