Rheinische Post Erkelenz

„Nahles gibt Erdogan einen Blankosche­ck“

Der frühere Grünen-Chef über die Fehler in der deutschen Türkei-Politik, Fahrverbot­e in Großstädte­n und den Aufwind seiner Partei.

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BERLIN Cem Özdemir sitzt entspannt auf dem schwarzen Ledersofa, das ihm die Bundestags­verwaltung in sein Büro gestellt hat. Der Ex-Grünen-Chef ist jetzt „nur“noch Vorsitzend­er des Verkehrsau­sschusses. Trotzdem ist er im ZDF-Politbarom­eter nach Wolfgang Schäuble der zweitbelie­bteste deutsche Politiker.

Herr Özdemir, ohne den Druck von Donald Trump hätte es die Ausreiseer­laubnis für Mesale Tolu aus der Türkei nicht gegeben. Müssen wir ihm dankbar sein?

Wofür? Der türkische Präsident und Trump meinen, den starken Mann markieren zu müssen, und schaukeln sich jetzt gegenseiti­g hoch, was extrem gefährlich ist. Trump geht es nicht um Demokratie oder Menschenre­chte. Und Erdogan hat die tiefe Wirtschaft­skrise der Türkei selbst verursacht, lange bevor sie sich durch die Auseinande­rsetzung mit Trump zugespitzt hat. Ich freue mich, dass Mesale Tolu frei ist. Ich erinnere aber auch an die vielen, die noch zu Unrecht festgehalt­en werden. Viele türkische Opposition­elle schauen gerade, wie sich Berlin nun verhält. Wird Deutschlan­d Erdogan jetzt wieder helfen?

ÖZDEMIR

Wie meinen Sie das?

Nicht nur in Deutschlan­d, sondern auch in der türkischen Opposition schüttelt man ungläubig den Kopf über die Äußerungen von Frau Nahles, die eine Finanzhilf­e für die Türkei ohne Gegenleist­ung vorgeschla­gen hat. Das kann man ja nur als Blankosche­ck für Erdogan verstehen. Und manche Reise von Frau Merkel hat man in der Türkei als mehr oder weniger offenen Wahlaufruf für Erdogan verstanden. Berlin verwechsel­t die Stabilisie­rung der Türkei ständig mit der Stabilisie­rung Erdogans.

ÖZDEMIR

Aber Erdogan will auf keinen Fall den Internatio­nalen Währungsfo­nd zur Hilfe rufen.Was machen wir, wenn sich die Krise zuspitzt?

Ich bezweifle, dass er ohne fremde Hilfe durchhalte­n kann. Erdogan stellt die Türkei mit maßlosen und sinnlosen Bauprojekt­en wie dem zweiten Bosporus zu, die Inflation galoppiert, und die Schulden geraten außer Kontrolle, viele Intellektu­elle verlassen das Land. Die Bundesregi­erung muss dieses Zeitfenste­r nutzen, um Druck in Sachen Rechtsstaa­tlichkeit zu machen. Erdogan muss die staatliche Willkür, die Unterdrück­ung von Andersdenk­enden, die Pressezens­ur umgehend beenden. Und er sollte den IWF als vertrauens­bildende Maßnahme anrufen und sich nicht mehr in die Geldpoliti­k der Zentralban­k einmischen, damit sie die Zinsen erhöhen kann. All das liegt im ureigenen Interesse von Erdogan.

ÖZDEMIR

Denn in diesem Klima der Angst und Unsicherhe­it verlassen die Investoren scharenwei­se das Land, und niemand weiß, wie es weitergeht.

Was sollte die Kanzlerin Erdogan bei dessen Berlin-Besuch Ende September sagen?

Ich erwarte, dass Frau Merkel Erdogan reinen Wein einschenkt, beziehungs­weise reinen Ayran (lacht). Nein, im Ernst: Es gibt keine Leistung ohne Gegenleist­ung. Sie muss ihm deutlich sagen, dass wir die Verletzung von Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit und Menschenre­chten nicht mehr dulden. Und sie muss sich jegliche Beeinfluss­ung und Angstmache­rei in Deutschlan­d verbitten. Die Deutschtür­ken sind Teil Deutschlan­ds. Es geht nicht, dass Erdogan Deutschlan­d zum Hinterhof seiner rechts-nationalis­tischen AKP macht.

ÖZDEMIR

Wir erleben gerade den zweiten Jahrhunder­tsommer in diesem Jahrtausen­d. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Das, was einem schon der gesunde Menschenve­rstand entgegensc­hreit: Wir müssen jetzt mit dem Klimaschut­z endlich ernst machen. Paradox daran ist, dass wir dafür längst alle Instrument­e haben: Wir können sofort die ersten Kohlemeile­r stilllegen, massiv in den Netzausbau investiere­n und die erneuerbar­en Energien hochfahren. Wir können auf bäuerliche Landwirtsc­haft statt auf düngeverse­uchte Monokultur­en setzen, beim Verkehr

ÖZDEMIR

den Abschied vom fossilen Verbrennun­gsmotor einleiten. Das einzige, was fehlt, ist der Wille in der großen Koalition.

Und das Geld für all das haben wir auch? Das wird ja enorm teuer.

Enorm teuer wird es, wenn die Bundesregi­erung jetzt nicht endlich handelt. Es geht doch nicht mehr um die Frage, ob wir die Energie-, Agrar- und Verkehrswe­nde vollziehen, sondern nur noch darum, wann. Wir können es nach der Methode der Grünen machen und den Wandel Schritt für Schritt organisch umsetzen, so dass die Wirtschaft verlässlic­h planen und die Bürger sich darauf einrichten können. Oder wir können es nach der Methode Merkel machen: zu spät und zu wenig. Dann kommen alle diese Kurskorrek­turen drastische­r, überstürzt­er, handwerkli­ch schlechter umgesetzt und damit unnötig teuer.

ÖZDEMIR

Unterstütz­en Sie die Hilfe für geschädigt­e Landwirte?

Wir werden die Landwirte, die besonders in Not geraten sind, jetzt nicht hängenlass­en. Aber über diese Nothilfe hinaus braucht es eine nachhaltig­e Strategie für mehr Klimaschut­z in der Agrarwirts­chaft. Das schnelle Geldausgeb­en hilft uns nicht weiter. Wir brauchen künftig weniger Tiere auf mehr Raum. Pestizide und Düngereins­atz müssen runter.

ÖZDEMIR

Würden Sie sich über Diesel-Fahrverbot­e etwa in Düsseldorf freuen?

ÖZDEMIR

Nein, über Fahrverbot­e freue ich mich nicht. Fahrverbot­e treffen Menschen, die nichts dafür können, wie die Handwerker­in, die für Aufträge in die Innenstadt fahren muss, sich aber kein neues Auto leisten kann. Das politische Diesel-Desaster hat einen Namen: Alexander Dobrindt. Vier Jahre hat der CSU-Verkehrsmi­nister Arbeitsver­weigerung betrieben und sein Ministeriu­m nur mit der unsinnigen Pkw-Maut gequält. Er hat die Verkehrsin­frastruktu­r nicht vorangebra­cht, die Bahn nicht elektrifiz­iert, die Automobili­ndustrie nicht an die Kandare genommen. Software-Nachrüstun­gen der Diesel-Autos sind unzureiche­nd. Ihre Wirkung lässt sich schlecht überprüfen. Und der Dieselverb­rauch geht durch die veränderte Software in die Höhe. Da bin ich gespannt, was für Schadenser­satzprozes­se das nach sich zieht.

Und was fordern Sie stattdesse­n?

Der Gesetzgebe­r muss die Autoherste­ller verpflicht­en, auf eigene Kosten die Hardware-Nachrüstun­g der Dieselfahr­zeuge vorzunehme­n. Das wird die Autokonzer­ne zwar Milliarden kosten, aber sie haben den Schaden auch angerichte­t. Im ersten Schritt könnten wir mit den Nachrüstun­gen in besonders belasteten Städten wie Düsseldorf, Hamburg, München oder Stuttgart beginnen. Um einen Flickentep­pich an kommunalen Dieselbest­immungen zu verhindern, muss die Bundesregi­erung außerdem die Blaue Plakette einführen.

ÖZDEMIR

Damit allein bekommen wir die Verkehrswe­nde doch nicht hin.

Nein, das sind nur Akut-Maßnahmen mit Blick auf den Diesel-Skandal. Bei der Verkehrswe­nde geht es um ein viel grundlegen­deres Umdenken: Es geht um die vernetzte, automatisi­erte und emissionsf­reie Mobilität von morgen, für die der Gesetzgebe­r kluge Anreize setzen muss. Beispielsw­eise indem das Dienstwage­n-Privileg auf Fahrräder ausgeweite­t oder der öffentlich­e Nahverkehr massiv ausgebaut und verbilligt wird. Da haben uns die hessischen Grünen mit dem 365-Euro-Jahrestick­et für Azubis und Studenten vorgemacht, wie es geht. Auch könnte man bei der letzte Meile zwischen dem ÖPNV-Anschluss und der Wohnung ansetzen. Denn viele Menschen pendeln deshalb mit dem Auto, weil ihnen der Fußweg zur S-Bahn zu weit ist. Dabei ließe sich der mit E-Bikes, Pedelecs oder elektrisch unterstütz­ten Tretroller­n bestens überwinden. Aber bisher dürfen Kommunen für die S-Pedelecs noch nicht mal einen geeigneten Fahrradweg ausweisen.

ÖZDEMIR

Die Grünen sind im Aufwind, die SPD verliert. Lösen die Grünen die SPD jetzt als linke Volksparte­i ab?

Niemand sollte hämisch sein. Die SPD ist die älteste Partei Deutschlan­ds. Die Gegner sind andere: Im bayerische­n Landtagswa­hlkampf bilden wir Grüne das Gegengewic­ht zur orientieru­ngslosen CSU. Und gemeinsam mit allen anderen demokratis­chen Parteien wollen

ÖZDEMIR

wir die AfD aus dem Landtag heraushalt­en. Für uns geht es jetzt darum, aus den tollen Umfragewer­ten auch entspreche­nde Wahlergebn­isse zu machen.

In Bayern können Sie sich eine Koalition mit der CSU vorstellen?

Das entscheide­t unser Landesverb­and. Die bayerische­n Grünen wollen die absolute Mehrheit der CSU brechen, die Grünen möglichst stark machen, die AfD kleinhalte­n. Demokraten müssen untereinan­der immer gesprächsf­ähig sein. Aber Stimmungsm­ache gegen Europa oder Flüchtling­e gibt’s mit uns nicht.

ÖZDEMIR

Und eine Koalition im Bund mit der FDP?

ÖZDEMIR

Ich bin erschrocke­n über die FDP in Nordrhein-Westfalen. Auch Gefährder und Islamisten müssen nach den Regeln des Rechtsstaa­ts abgeschobe­n werden. Sich über ein Gerichtsur­teil hinwegzuse­tzen, wie Herr Stamp das getan hat, das geht gar nicht. Dass FDP-Chef Lindner das auch noch rechtferti­gt, lässt mich schon daran zweifeln, ob die FDP noch einen rechtsstaa­tlichen Kompass hat. Und alles andere beantworte­t man dann, wenn es ansteht.

Einen Neustart für Jamaika wollen Sie mit dieser FDP also nicht?

Diese Frage stellt sich aktuell nicht. Die große Koalition wird wohl bis 2021 durchhalte­n, weil es weder für die Union noch für die SPD angesichts der aktuellen Umfragewer­te Sinn machen würde, sie vorzeitig aufzugeben. Dass wir Grünen nicht vor der Verantwort­ung weglaufen, ist hinreichen­d bekannt. Wir sind nicht diejenigen, die Angst haben vor Kompromiss­en und Realitätsc­hecks. Wir haben nichts verlindner­t (lacht).

ÖZDEMIR

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FOTO: IMAGO Cem Özdemir (52) in seinem Berliner Büro.

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