Mit dem Dichter auf die Löwenburg
Wolfgang Müller von Königswinter war von der Burgruine aus dem 12. Jahrhundert verzaubert. Wer zu ihr wandert, genießt spektakuläre Ausblicke aufs Rheintal und das Drachenfelser Ländchen.
BAD HONNEF Es gibt Tage, da möchte man die Welt niederküssen. Die Sonne scheint vom fast italienisch blauen Himmel, die Äste der Buchen, die beide Seiten des Waldweges säumen, berühren einander und bilden so eine Kuppel, durch die man geborgen geht wie durch das Mittelschiff einer gotischen Kathedrale. Vögel singen einander wunderschöne Melodien zu. Am Hang, neben dem sich der Pfad entlang schlängelt, liegen moosbewachsene Felsbrocken, als habe sie ein Riese wie Wassertropfen aus der Hand geschüttelt,. Unterm Tritt der Schuhe knirschen kleine Steine, sanfter Wind kühlt die Stirn: ein fast paradiesischer Frieden, in einem selbst und um einen herum.
„Es ist die Löwenburg, die ich erstieg, / die stets das liebste Ziel von meinen Gängen; / ob allen Bergen feiert sie den Sieg / mit Wäldern, Wiesenplätzen, Felsenhängen.“Wolfgang Müller von Königswinter (1816-1873) hat diese Verse 1846 in seinem Gedichtband „Rheinfahrt“veröffentlicht. Kaum jemand liest noch den in Königswinter als Peter Wilhelm Karl Müller geborenen Dichter, der sich ab 1845 den Künstlernamen Wolfgang Müller von Königswinter zulegte, um nicht mit seinem Kollegen Wilhelm Müller verwechselt zu werden. Der ist durch die von Franz Schubert vertonten Liederzyklen „Winterreise“und „Die schöne Müllerin“Konzertgängern auch heute noch bekannt.
Der Königswinterer Müller soll uns zum literarischen Begleiter auf die Löwenburg werden, der mit 455 Metern nach dem Großen Ölberg höchsten Erhebung im Siebengebirge. Er wird auf den Berg wohl erst als junger Mann gewandert sein, denn 1820, da war er vier Jahre alt, wurde der Vater, ein Arzt, wie später auch der Sohn, Kreisphysikus in Bergheim/Erft, danach zog die Familie nach Düsseldorf. Erst als Student der Universität Bonn, wo er ab 1835 Medizin studierte, kehrte Müller in die Region zurück. „Noch kenn ich jeden Steg“, heißt es an einer Stelle des Gedichts, in dem der Spätromantiker enthusiastisch den Rhein und die Sieben Berge besingt.
Stellen wir uns vor, er ist von Bad Honnef aus durchs Tretschbachtal gegangen, einer steilwandigen, auch heute noch verwilderten Schlucht, der Weg von Totholz gesäumt und an manchen Stellen feucht vom Bachlauf. Festes Schuhwerk ist zu empfehlen, man muss aufpassen, wohin man tritt. Umsichtige Waldarbeiten haben den Pfad stellenweise mit Holzbohlen ausgelegt, kleine Brücken queren den Wasserlauf, im Winter können sie glitschig sein.
Es ist still, nur die Vögel zwitschern, in den Blättern ein Wispern. „Waldeinsamkeit! / Du grünes Revier, / wie liegt so weit / die Welt von hier!“Joseph von Eichendorff hat diese Verse geschrieben; der große Meister der Romantik (1788-1857) prägte das Kunstverständnis Müllers, beide hatten sich in Berlin kennengelernt, wohin der Medizinstudent 1839 von Bonn aus gezogen war, um sein Studium abzuschließen.
„Auf dem gebrochnen Thurme, der sie schmückt / hoch über Buchenwipfeln, Vogelsängen, / setz ich mich hin, im tiefsten Geist entzückt,“notierte Müller, als er das Ziel erreicht hatte. Das Herz der Romantiker floss ja über, wenn sie Mauerreste aus alten Zeiten sahen, was schwärmten sie von der Ruine des Zisterzienserklosters Heisterbach unten am Fuß des Siebengebirges!
Die Löwenburg wurde in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts von Heinrich II. Graf von Sayn errichtet und zur Grenzfeste gegen die kurkölnischen Burgen Drachenfels und Wolkenburg ausgebaut. Urkundlich erwähnt ist, dass 1280 die Ritter von Löwenburg Anspruch auf Waldflächen in der Nachbarschaft des Klosters Heisterbach erhoben und deswegen den Kölner Erzbischof Siegfried von Westerburg anriefen. Hauptburg, Vorburg und ein Teil des Außenrings entstanden im 13. Jahrhundert. Man kann sich eine ungefähre Vorstellung davon machen, wie die Burg damals aussah, denn die Königswinterer Bildhauerin Sigrid Wenzel hat 1988/89 Bronzetafeln geschaffen, die das ursprüngliche Bild der langgestreckten Anlage zeigen; sie wurden an einer Mauer der Ruine befestigt. 1484 ging die Löwenburg in den Besitz des Herzogtums Jülich-Berg über. In der Zeit der Reformation ließ Herzog Wilhelm V. genannt der Reiche 1565 den Wanderprediger Conrad Koch aus Dollendorf, einen Wiedertäufer, und sieben seiner Glaubensgenossen wegen Unbotmäßigkeit auf der Löwenburg enthaupten.
Nach mehreren Kriegen verfiel die Anlage Ende des 16. Jahrhunderts; erhalten sind die Zisterne im Burghof und zwei Seitenmauern des Bergfrieds aus Bruchstein; der Aussichtsturm, ein beliebter Fotopunkt für Wanderer mit Blick aufs Rheintal und das Drachenfelser Ländchen, entstand erst 1906.
Wer zur Löwenburg geht, sieht unterwegs mancherlei Erinnerungsmale: Unterhalb der Merkenshöhe würdigt der Verschönerungsverein für das Siebengebirge (VVS) seinen Förster und Jäger Günther Leonhard (1959-1992) mit einem Relief an einer Felswand. Eine Familie hat eine Sitzbank zu Ehren des offenbar wanderfreudigen Vaters und Ehemanns mit der Plakette „Hatzfelds Ruh“versehen, und oben auf dem Gipfel hat ein Schüler in ehrfürchtigem Gedenken an seinen Lehrer Dr. Julius Reisdorff (1922-1990), Studiendirektor am Siebengebirgsgymnasium in Bad Honnef, eine Rundbank um den markanten Feldahorn zimmern lassen.
An Carl G. Rolfe hingegen erinnert nichts. Der 1917 geborene Corporal der 1. US-Armee aus Chautauqua County (New York) ist am Nachmittag des 14. März 1945 auf der Löwenburg gefallen. Nach der Einnahme der Brücke von Remagen am 7. März 1945 kämpften sich die US-Truppen durch das Siebengebirge in Richtung Autobahn vor und eroberten dabei auch einen Beobachtungsstand auf dem Berggipfel, den die deutsche Wehrmacht zu Kriegsbeginn 1939 errichtet hatte, um feindliche Bomberverbände melden zu können. Rolfe starb entweder durch Artilleriebeschuss deutscher Truppen oder durch Fallschirmjäger, denen es für ein paar Stunden gelungen war, die Löwenburg zurückzuerobern. Der Soldat ist auf dem US-Friedhof in Henri-Chapelle (Belgien) bestattet worden.
Von alldem hat Wolfgang Müller von Königswinter, der Romantiker, nichts geahnt, als er auf dem Gipfel saß und den Blick schweifen ließ: „Tief unter mir des Laubwerks grüne Wogen, / und Thal und Ebnen, fruchtbar, reich, beglückt; / doch über mir von Adlern nur umflogen!“
Für heute soll ein Bussard reichen.