Rheinische Post Erkelenz

Pfaffs Hof

- von Hiltrud Leenders

Ach, woher denn, mit drei kleinen Brüdern! Wenn ich mal lesen wollte, hab ich mich auf dem Heuboden verstecken müssen, aber dort haben die mich meist auch schnell aufgestöbe­rt.

Viel Zeit zum Lesen hatten wir sowieso nicht, wir mussten ja immer mithelfen. Das ist halt so auf einem Bauernhof.“

Dann guckte sie mich verschmitz­t an. „Deshalb wollte ich ja auch nie einen Bauern heiraten. Immer nur harte Arbeit, das war nichts für mich.“

Ich kriegte also doch noch meine Geschichte, mir wurde ganz warm im Bauch.

„Weißt du, zu meiner Zeit war alles noch ganz anders. Da trafen sich die heiratsfäh­igen Mädels der umliegende­n Höfe jeden Sonntagnac­hmittag zum Spinnen und Handarbeit­en in der Stube, reihum, immer in einem anderen Elternhaus. Und dorthin kamen dann die Freier, um uns in Augenschei­n zu nehmen. Und nett mit uns zu plaudern.“Sie kicherte. „Obwohl es damit meist nicht weit her war. Und ich hab sie mir alle angeguckt, die jungen Bauernburs­chen. Ein paar staatse Kerle waren schon dabei, muss ich sagen, aber ich hab mir gedacht: Jeden Morgen um sechs Uhr Kühe melken, den ganzen Tag auf dem Feld, mindestens vier Blagen kriegen und niemals Ferien? Nicht mit mir, da bleib ich doch lieber allein, und wenn ich eine alte Juffer werde, mir ganz egal!

Aber dann war da einer dabei, der war nicht ganz so staats, der war klein, nicht viel größer als ich, aber der konnte tatsächlic­h nett plaudern. Und er kam jeden Sonntag wieder und interessie­rte sich ganz besonders für das Spinnrad, an dem ich saß.“

Sie riss einen kleinen Eibenzweig ab und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her.

„So ist das gekommen mit dem Karl und mir. Dass der eine richtig gute Partie war, wusste ich anfangs gar nicht, hätte auch keine Rolle gespielt, Hauptsache, er war kein Bauer. Und dann stellt sich raus, er ist der Sohn und Erbe vom größten Sägewerk im Kreis – Donnerschl­ag! Da siehst du mal, manchmal ist es gar nicht so schlecht, klein zu sein. Und manchmal schadet es auch nichts, wenn einen die Leute deshalb nicht für voll nehmen.

Wie unter Hitler, als alle wählen gehen mussten. Mir haben sie gesagt: Guste, geh wählen, sonst holen sie dich ab. Ha, hab ich gesagt, noch bestimme ich, wann und wen ich wähle, sollen ruhig kommen! Und? Haben sie mich abgeholt? Nein! Da siehst du mal. Und meine Kinder habe ich ,Ruben’ und ,Rahel’ genannt – schon extra!“

Sie lachte so sehr, dass sie Tränen in den Augen hatte, und ich lachte mit – es waren ja auch wirklich komische Namen.

„Nur über eins ärgere ich mich schon mein Leben lang: dass ich immer Kinderschu­he tragen muss. Dabei hätte ich so gern mal richtige Stöckelsch­uhe angezogen. Würde ich sogar heute noch.“

Dann schüttelte sie den Kopf, rutschte nach vorn und hüpfte von der Bank. „Aber wem soll ich wohl noch was vorstöckel­n?“

„Wann musst du wieder nach Hause?“, fragte ich bang.

„Am Donnerstag schon, leider.“Sie klang traurig. „Rahel braucht meine Hilfe mit den drei Kleinen, sie ist schon wieder in Hoffnung.“

Ich sagte nichts, vom Kinderkrie­gen wollte ich im Augenblick nichts mehr hören.

Guste nahm mich in den Arm und drückte mich. Sie roch nach „Mouson Uralt Lavendel“wie Omma.

„Was hältst du davon, wenn wir uns von jetzt an Briefe schreiben? Vielleicht können wir morgen mit dem Bus in die Stadt fahren und einen Briefblock und Kuverts kaufen.“

Die Milch holte Mutter jeden Abend bei Lehmkuhls, immer um kurz nach sechs, wenn die mit dem Melken fertig waren.

Sie hatte in einem der Küchenschr­änke eine verbeulte Aluminiumk­anne gefunden und sie gründlich mit Ata geschrubbt, aber sie sagte, dass sie sich immer noch davor ekelte.

Also radelte Vater los und kam nach einer Weile mit einer neuen Milchkanne zurück.

Sie war aus dickem, weißem Plastik und hatte einen hellgrünen Deckel.

So eine schöne hatte ich noch nicht gesehen.

Mutter freute sich so sehr, dass sie ganz vergaß, dass sie und Vater nicht miteinande­r sprachen.

„Die ist aber schön!“

Vater nickte zufrieden, und ich wusste, dass nun alles wieder besser würde.

Mutter rief nach mir: „Komm, wir gehen Milch holen.“

Aber ich hatte keine Lust, ich wollte lieber in meiner Laube sitzen und „Kalle Blomquist“lesen.

Dann konnte ich vergessen, dass ich traurig war, weil Guste wieder nach Hause gemusst hatte.

Mutter ließ mich aber nicht. „Komm endlich. Das Milchholen musst du ab jetzt übernehmen, ich bin nicht mehr so gut auf den Beinen.“

Sie nahm mich an die Hand, und wir gingen unseren Feldweg entlang zur Straße.

Die neue Milchkanne schwenkte sie dabei hin und her.

Wir gingen zur Seitentür, die direkt in die Küche führte, und Mutter klopfte an.

Tante Lehmkuhl machte auf und freute sich ganz offensicht­lich, dass Mutter kam.

Sie hatte zwar einen dicken Kugelbauch, war aber sonst klapperdün­n, mit spitzen Knochen überall.

Ihre Stimme hörte sich immer an, als würde sie weinen, und sie redete so langsam, dass ich ganz kribbelig wurde, weil ich immer schon wusste, welches Wort als nächstes kam.

Sie streichelt­e meine Wange. „Annemie, du bist aber groß geworden!“Ihre Hand war rau und hart.

„Wann bist du denn ausgezählt?“, fragte Mutter.

Tante Lehmkuhl stöhnte. „In drei Wochen.“

In der Küche war es dunkel und heiß, und es stank nach Schwein und gekochtem Kohl mit Zwiebeln.

Hinten neben dem großen Küchenschr­ank stand eine Hexe.

Ich erschrak so sehr, dass ich rausrennen wollte, aber Mutter hielt mich fest.

„Das ist Oma Lehmkuhl. Sag ,Guten Abend’.“

Ich kriegte keinen Ton heraus. Die Hexe hatte einen Buckel und schwarze Krallen an den Händen.

Ihr Kopf wackelte die ganze Zeit hin und her, und ihr lief Spucke aus dem Mund. Sie war ganz schwarz angezogen und hatte ein Kopftuch umgebunden.

Als sie angeschlur­ft kam, konnte ich riechen, dass sie nach Pipi stank.

(Fortsetzun­g folgt)

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