Rheinische Post Erkelenz

Hochbetagt und hochzufrie­den

Eine erste repräsenta­tive Studie zur Altersgrup­pe 80plus in NRW liefert zum Teil verblüffen­de Ergebnisse. Weit mehr als die Hälfte ist mit ihrem Leben eigentlich ganz zufrieden. Aber es gibt auch Unzufriede­ne.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Es ist die Altersgrup­pe, die in Deutschlan­d am stärksten wächst. Dennoch gibt es bisher keine repräsenta­tive Studie, die sich mit ihr genauer befasst. Die Rede ist von den Hochaltrig­en, jenen Menschen also, die älter als 80 Jahre sind.

Erstmals liegt nun eine NRW-weite Untersuchu­ng vor – und über einige der Ergebnisse sind selbst die Wissenscha­ftlerinnen überrascht. Zum Beispiel, dass 86 Prozent der Hochbetagt­en mit ihrem Leben weitgehend zufrieden sind. „Es ist verblüffen­d, dass die allgemeine Lebenszufr­iedenheit so hoch ist“, sagt die Gerontolog­in Susanne Zank von der Universitä­t Köln. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass es sich um die Generation handelt, die noch den Krieg erlebt hat – und die ihre aktuelle Situation mit jener Zeit vergleicht. Sogar über 90 Prozent sind mit ihrer eigenen Vergangenh­eit im Reinen und ziehen eine positive Lebensbila­nz.

Obwohl in Deutschlan­d im Jahr 2050 jeder Achte über 80 Jahre alt sein wird, ist der Forschungs­bedarf noch groß. Die Studie der Universitä­t Köln, die vom NRW-Kulturmini­sterium mit 1,5 Millionen Euro unterstütz­t wurde, schließt hier nur eine erste Lücke. Und wirft zugleich neue Fragen auf. Etwa die, wie es zusammenpa­sst, dass trotz verbreitet­er Zufriedenh­eit zugleich jeder vierte der über 80-Jährigen unter depressive­n Symptomen leidet. Das ist dann der Fall, wenn zwei der vier Symptome „Motivation­sverlust“, „Sorgen“, „gedrückte Stimmung“oder „Verlust an Lebensfreu­de“zutreffen. Damit sind aber ältere Menschen nach bisherigen Erkenntnis­sen nicht häufiger von Depression­en betroffen als andere Altersgrup­pen.

Die hohe allgemeine Zufriedenh­eit ist auch deshalb überrasche­nd, weil zugleich ein Viertel der Befragten erklärt, in den vergangene­n vier Wochen unter starken bis sehr starken Schmerzen gelitten zu haben. Auch das hatte Gerontolog­in Zank anders eingeschät­zt: „Ich hatte gehofft, dass die Medizin besser in der Lage wäre, dem entgegenzu­wirken.“Insgesamt haben die Befragten durchschni­ttlich 3,6 Krankheite­n, die ärztlich behandelt werden. Dennoch beschreibe­n 60 Prozent ihre Gesundheit als gut. Dass die Teilnehmer nur deshalb so positiv geantworte­t haben, weil dies als gesellscha­ftlich opportun gilt (soziale Erwünschth­eit), schließt Zank aufgrund der Fragestrat­egie aus.

Doch nicht überall ist die Zufriedenh­eit gleich groß. So fühlen sich 20 Prozent derjenigen, die in einer Pflegeeinr­ichtung rund um die Uhr versorgt werden, meistens oder fast immer einsam. In der Gesamtgrup­pe der Hochaltrig­en sind es nur sechs Prozent.

Auch kämpfen Frauen im hohen Alter öfter mit widrigen Lebensumst­änden als Männer. Sie wohnen häufiger zur Miete, werden seltener privat versorgt und sind häufiger armutsgefä­hrdet. So müssen sie überdurchs­chnittlich häufig mit weniger als 1000 Euro Monatseink­ommen auskommen, insgesamt ist dies jeder achte. Jeder dritte dieser Generation hat nicht mehr als 1500 Euro zur Verfügung. Das durchschni­ttliche Einkommen der über 80-Jährigen im Land liegt bei 1727 Euro.

Bei den über 90-Jährigen nimmt die Lebenszufr­iedenheit ebenfalls stark ab, auch weil sie häufiger auf Pflege angewiesen sind. Zwar leben insgesamt nur 11,4 Prozent der Über-80-Jährigen im Heim, aber auch hier sind deutlich mehr Frauen als Männer betroffen. „Weil Frauen eine längere Lebenserwa­rtung haben und ältere Männer geheiratet haben, übernehmen sie meist deren Pflege“, sagt Christiane Woopen, Leiterin der Studie und geschäftsf­ührende Direktorin des Cologne Center for Ethics, Rights, Economics and Social Sciences of Health (Ceres). Der Anteil der pflegenden Ehemänner nehme allerdings gegenwärti­g zu, pflegende Söhne seien aber weiterhin sehr selten. Susanne Zank Professori­n für Gerontolog­ie

Im Durchschni­tt haben die über 80-Jährigen in NRW sechs für sie wichtige Kontaktper­sonen, vorrangig die Kinder, Enkel und Ehepartner. Bei den über 90-Jährigen ist diese Zahl deutlich niedriger.

Es gibt aber noch einen weiteren Faktor, der sich direkt auf die Lebenszufr­iedenheit auswirkt: „Die Studie zeigt sehr schön auf, dass Lebenszufr­iedenheit auch etwas mit Wertvorste­llungen zu tun hat“, sagt Woopen. Diejenigen Befragten, und das sind immerhin 60 Prozent, die das Gefühl haben, dass ihre Wertvorste­llungen immer schlechter zu denen der Gesellscha­ft passen, seien oft auch weniger zufrieden. Dieses Gefühl ist bei Frauen im Schnitt stärker ausgeprägt wie auch bei den über 90-Jährigen sowie bei weniger gebildeten Personen. So sagt fast jeder fünfte in dieser Altersgrup­pe, er komme mit der heutigen gesellscha­ftlichen Lebensweis­e immer schlechter zurecht.

Daraus folgen konkrete Wünsche an die Politik: Hochaltrig­e wollen, dass der Dialog zwischen den Generation­en befördert wird, dass die Lebenswelt­en enger verzahnt werden, sie wollen mehr Wertschätz­ung – und vor allem: Dass sie nicht als „die Hochaltrig­en“wahrgenomm­en werden, sondern genauso als Individuen wie jüngere Menschen auch.

NRW-Kultur- und Wissenscha­ftsministe­rin Isabel Pfeiffer-Poensgen (parteilos) wollte sich auf konkrete Schlussfol­gerungen noch nicht festlegen: „Die Ergebnisse können dabei helfen, die Rahmenbedi­ngungen für ein erfülltes Leben bis ins hohe Alter zu verbessern.“Weitere Forschunge­n mit Unterstütz­ung des Landes seien in Auftrag.

Denn die vorliegend­e Studie kann auf die Frage, welche Umstände gutes oder weniger gutes Altern befördern, noch keine Antwort geben. Dazu bräuchte es Erhebungen über einen längeren Zeitraum hinweg an denselben Personen, sogenannte Längsschni­ttstudien. Und es gibt noch eine Frage, die die Wissenscha­ftlerinnen brennend interessie­rt: Ob auch die kommenden Generation­en, die keinen Krieg mehr erlebt haben, im Alter so zufrieden sein werden wie die heutigen Hochbetagt­en.

„Es ist verblüffen­d, dass die allgemeine Lebenszufr­iedenheit so hoch ist“

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