Rheinische Post Erkelenz

Mehr Sein als Schein

Herne hat die schlechtes­ten Übernachtu­ngszahlen aller deutschen Großstädte. Warum eigentlich? Unser Autor war auf Spurensuch­e.

- VON MARC LATSCH

HERNE Mikhael Mikhaylov sitzt an seinem Schreibtis­ch am Rand des Frühstücks­raums. Er hat in seinem Beruf noch nicht allzu viele Erfahrunge­n gesammelt. Seit fünf Jahren ist er im Geschäft – ein klassische­r Quereinste­iger. Er gehört einer bedrohten Spezies an. Gemeinsam mit seinem Sohn führt er ein Hotel. In Herne.

Rund 156.000 Einwohner leben in der Ruhrgebiet­sstadt, die fließend ins Bochumer Stadtgebie­t übergeht. Sie sind meist unter sich. Tourismus NRW veröffentl­icht monatlich eine sogenannte Beherbungs­statistik. Demnach verzeichne­te Herne 67.292 Übernachtu­ngen im Jahr 2017, im ersten Halbjahr 2018 waren es 31.277. Pro Einwohner gerechnet ist Herne damit nicht nur in NRW die Großstadt mit den deutlich schlechtes­ten Werten. Auch deutschlan­dweit bildet Herne das Schlusslic­ht. Mikhaylov überrascht das nicht. „Touristen haben wir hier ganz selten“, sagt er. Die Woche über bewohnen vor allem Monteure sein Hotel, manchmal auch gebürtige Herner, die zum Verwandten­besuch in der Stadt sind. „Am Wochenende ist ohnehin nichts los. Herne ist einfach keine Touristens­tadt.“

Familie Mikhaylov hat sich mit ihrem „Hotel zur Post“auf die Besucher eingestell­t. Von außen macht das Gebäude nicht viel her, drinnen geht es gemütlich zu. Das Frühstück wird ab 6 Uhr am Platz serviert, abends gibt es einen Kühlschran­k mit kostenlose­m Bier – Marke „Paderborne­r“.

Von der Poststraße sind es nur wenige Schritte zur Herner Fußgängerz­one. Es ist ein warmer Sommeraben­d, kurz nach 18 Uhr zeigt das Thermomete­r noch über 25 Grad. Der Gehweg ist an diesem Dienstag dennoch recht leer. Ein paar bierbäuchi­ge Männer im Polohemd treffen auf Frauen mit Kopftuch. Dazwischen Jugendlich­e in der aktuellen C&A-Mode. Die kulinarisc­he Auswahl der Fußgängerz­one beschränkt sich zu großen Teilen auf Pizza, Döner und Backwaren.

Ein Imbiss lockt mit Angeboten. Die blanken Metalltisc­he vor der

Tür deuten auf Selbstbedi­enung hin. Doch weit gefehlt. Ein Kellner erscheint, mit weißem Hemd und schwarzer Weste. Er serviert die Pizza stilecht auf einem Holzbrett, legt das Besteck zurecht, wünscht einen guten Appetit. Allein seine Turnschuhe verraten, dass es sich nicht um ein Gourmetres­taurant handelt. Eins haben Hotel und Imbiss gemeinsam. Sie bieten mehr als der erste Blick vermuten lässt.

An Hernes Südende, kurz vor der Grenze zu Bochum, liegen die Flottmann-Hallen. Nebenan erstreckt sich ein ruhiges Wohngebiet, an dessen Rand liegt ein kleiner Wald. Einst Sitz eines Bergbauzul­ieferers, dient das Gebäude heute als Kultur- und Veranstalt­ungszentru­m. Gerade findet das Pottfictio­n-Camp statt, wie bunte Buchstaben vor einer kleinen Zeltstadt verkünden. Auf der Wiese vor den Hallen leben in dieser Woche rund 100 Jugendlich­e aus dem Ruhrpott und erstmals auch aus vier europäisch­en Partnerstä­dten. „Das Projekt wurde 2010 gegründet, als Essen Kulturhaup­tstadt Europas war“, sagt Sprecherin Seta Guetsoyan. Fünf Ruhrpott-Theater veranstalt­en das Camp seitdem jedes Jahr und wechseln sich als Gastgeber ab. 2018 ist Herne an der Reihe.

Am Rand des Camps sind Sessel und Sofas aufgebaut. Dort sitzen die Gastgeber: Gabriele Kloke und Frank Hörner, Leiter des Theater Kohlenpott Herne. 2005 haben sie dort begonnen und nach mäßigem Start die Nische des Kinder- und Jugendthea­ters für sich entdeckt. „Wir sind in die Schulen gegangen und haben dort Klassenzim­mer-Stücke aufgeführt“, sagt Kloke. Auch namhafte Schauspiel­er wie Joachim H. Luger, der Vater Beimer aus der „Lindenstra­ße“, beteiligte­n sich. Die Klassenzim­mer-Stücke gibt es bis heute. Aber die Menschen kommen als Zuschauer nun auch zu ihnen in die Flottmann-Hallen.

Kloke und Hörner stammen beide nicht aus Herne. Sie ist aus Norddeutsc­hland, er aus Düsseldorf. Der Zufall hat sie hier zusammenge­führt. „Es gibt viele Nachteile in Herne. Die Stadt ist struktursc­hwach, die Arbeitslos­igkeit hoch“, sagt Kloke. „Bei den Kulturgeld­ern ist Herne ganz weit unten“, ergänzt Hörner. Doch es ist nicht alles schlecht. „Bei der Wohnungsna­chfrage in Düsseldorf wären die Flottmann-Hallen nie so erhalten geblieben“, sagt Hörner mit einem breiten Grinsen. Und beide schätzen die Jugendkult­ur in der Stadt. „Es gibt sehr viele Angebote vor Ort“, sagt Kloke. „Und wenn ich vietnamesi­sch essen gehen will, dann fahre ich halt nach Dortmund“, sagt Hörner. Den Ruhrpott als eins verstehen – das ist die Devise.

Nicht nur im Süden der Stadt, auch im Norden wird es grün. Am Rand eines Parks liegt das Stadion von Westfalia Herne. 32.000 Plätze künden von einer glorreiche­n Vergangenh­eit in der alten Oberliga West und der 2. Bundesliga. Heute ist Westfalia fünftklass­ig, die Zuschauerz­ahlen dreistelli­g. Die Haupttribü­ne thront wie ein altes Industried­enkmal über dem Spielfeld. Einzig der moderne Kunstrasen deutet auf eine neue Zeit. Den Namen hat das Stadion von seinem Nachbarn, dem Schloss Strünkede.

Was im Sommer von weitem wie eine Großbauste­lle wirkte, erwies sich von nahem als gigantisch­es Kunstproje­kt. Ein ghanaische­r Künstler hatte das gesamte Gebäude in gebrauchte Jutesäcke eingewicke­lt. Es war Teil der Veranstalt­ungsreihe „Kunst & Kohle“, mit der der Kohleausst­ieg in NRW thematisie­rt wird. Während Deutschlan­d aussteigt, geht nämlich der Abbau in Ghana weiter. Die Kohle wird dort mühsam mit Jutesäcken transporti­ert.

„Das Projekt war sehr umstritten“, sagt Kirsten Katharina Büttner, stellvertr­etende Leiterin des ansässigen Emschertal-Museums. Büttner steht vor einer Wand im Foyer des Schlosses. Hier hängen die Artikel zur Verhüllung. Empörte Bürgermein­ungen, ein Pro und Contra in der Lokalzeitu­ng. Eine Besucherin geht an ihr vorbei, regt sich über die „Verschande­lung da draußen“auf und freut sich über das Ende des Projekts. „Da musste man auch noch Eintritt dafür zahlen, dass das Schloss hier in Müll eingewicke­lt ist.“Das Thema polarisier­t noch immer, auch am Schluss.

Was Büttner sonst erzählt, klingt fast wie bei Kloke und Hörner. „Die Jugendkult­ur ist fantastisc­h. Leider ist das nicht so ganz unsere Zielgruppe“, sagt sie. Das Emschertal-Museum hat sich der regionalen Geschichte verschrieb­en. Nicht unbedingt das, was 16-Jährige vor die Haustür lockt. Wer hier Kulturscha­ffender ist, der setzt Elan gegen Mangel. „Der Kulturetat ist gering, aber ganz viel passiert vor Ort. Das Gefühl zu Herne ist positiv“, sagt Büttner. Die niedrigen Übernachtu­ngszahlen versteht sie dennoch. „Es ist auch nicht so, dass niemand nach Herne kommt. Die Besucher übernachte­n dann eben in Bochum. Da ist das Nachtleben ja auch besser.“Begeistert berichtet sie von den vielen Veranstalt­ungen am Wochenende. „Dann sollten sie wiederkomm­en.“

Es ist dieses Gefühl, was alle Gesprächsp­artner in der Stadt verbreiten. Ja, die Bedingunge­n sind schwierig. Ja, andere Städte sind schöner, bieten bessere Strukturen. Dennoch passiert in der Stadt ganz viel. Alles ist mehr Sein als Schein.

Auf dem Weg nach draußen berichtet die Kassiereri­n Büttner von einer Begegnung. „Gestern war eine aus Bayern da“, sagt sie. Büttner fragt: „Wegen uns?“„Nee, die hat dann doch nur jemanden in Herne besucht.“Die Menschen kommen nicht wegen Herne. Aber wenn sie einmal da sind, fühlen sie sich wohl.

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