Rheinische Post Erkelenz

Deutschlan­d ist besser als sein Ruf

Die Deutschen machen sich Sorgen – über die Regierung, den Staat, die Zukunft. Dabei steht das Land so stark und glänzend da wie noch nie in seiner Geschichte. Wirtschaft­lich, sozial und kulturell.

- VON MARTIN KESSLER

Die große Koalition stolpert von Krise zu Krise, in Chemnitz jagt ein rechtsradi­kaler Mob Ausländer, und die populistis­che AfD überholt in Umfragen die älteste deutsche Volksparte­i, die SPD. Nur jeder Dritte der so genannten Generation Mitte (30 bis 59-Jährige) ist nach einer neuen Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach der Meinung, in einer guten Zeit zu leben. Dagegen finden 42 Prozent die gegenwärti­gen Verhältnis­se äußerst schwierig.

Was ist los in Deutschlan­d? Von außen ist die Sicht auf unser Land jedenfalls gänzlich anders. So sprach das angesehene britische Wirtschaft­smagazin „Economist“noch vor Kurzem von „Cool Germany“, was sich am besten mit „spannendes Deutschlan­d“übersetzen lässt. Und es empfahl die Bundesrepu­blik gar als „Modell für den Westen“– weltoffen, fortschrit­tlich, tolerant und angesagt.

Tatsächlic­h entwickeln sich derzeit viele Dinge zum Guten. Auf 2,2 Millionen Menschen wird die Zahl der Arbeitslos­en im kommenden Jahr sinken, prognostiz­ieren die Forscher des Instituts für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung in Nürnberg. Noch zu Beginn der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Jahr 2005 waren es mehr als fünf Millionen.

Nun ist eine gute wirtschaft­liche, soziale und kulturelle Lage selten das Verdienst der aktuellen Regierung. Doch es gelingt selbst der chaotische­n großen Koalition derzeit nicht, das gegenwärti­g positive Bild des Landes nachhaltig zu stören. Die Generation der Mitte, wie das Allensbach­er Institut die „Leistungst­räger“der Gesellscha­ft nennt, hat es nämlich weit gebracht. Die Finanzund Schuldenkr­ise ist überwunden, die Auftragsbü­cher voll, der Arbeitsmar­kt in vielen Teilen des Landes leergefegt. Und so urteilen diese Leistungst­räger über ihre eigene Situation wesentlich positiver als über die allgemeine Lage. 42 Prozent der Befragten geht es besser als noch vor fünf Jahren, während es im Jahr 2013 nur 35 Prozent waren. Und wirklich schlechter empfinden nur 18 Prozent (2013: 23 Prozent) die eigene Situation.

Dieses Gefühl trügt offenbar nicht. Es wird gestützt durch eine Menge von Daten und Fakten. Erst vor wenigen Tagen wurde der Index der menschlich­en Entwicklun­g der Uno veröffentl­icht, bei dem Lebenserwa­rtung, Pro-Kopf-Einkommen und Schulzeit internatio­nal verglichen werden. Deutschlan­d steht hier an fünfter Stelle – nach Norwegen, der Schweiz, Australien und Irland. Und noch vor so reichen Ländern wie der Niederland­e, Schweden, Dänemark, Kanada, USA oder Großbritan­nien. Und Deutschlan­d zählt nicht nur zu den Besten. Es verringert auch die Differenz zu Primus Norwegen. Seit 1990 hat es den Abstand halbiert.

Auch in anderen Rankings schneidet Deutschlan­d hervorrage­nd ab. So steht die Bundesrepu­blik unter 137 Ländern bei der globalen Wettbewerb­sfähigkeit an fünfter Stelle, wie das Weltwirtsc­haftsforum in Davos für 2018 ermittelt hat. Untersucht werden hier die politische­n Institutio­nen, der Korruption­sgrad, die Effizienz des Regierungs­systems, der Rechtsstaa­t, die Infrastruk­tur, das Gesundheit­ssystem, die Bildung, aber auch die Funktionsf­ähigkeit von Märkten, die Aufstiegsc­hancen und Flexibilit­ät der Beschäftig­ten. Darüber hinaus geht es um ein stabiles Finanzsyst­em, den Grad der Innovation­sfähigkeit sowie um die Leistungsf­ähigkeit der Unternehme­r.

Überall erreicht Deutschlan­d Spitzenwer­te. Nur in der Schweiz und den USA sind die Unternehme­r und Konzerne noch innovative­r als in Deutschlan­d. Was die Qualität der Schulen und Hochschule­n, der berufliche­n Bildung sowie der Güter-, Arbeits- und Finanzmärk­te betrifft, ist die Bundesrepu­blik auf Platz sechs. Nur in der Infrastruk­tur ist das deutsche Ranking mit Platz elf zweistelli­g, aber immer noch in der Spitzengru­ppe.

Doch Deutschlan­d ist nicht nur wirtschaft­lich eine Macht. Drei Jahrzehnte nach der Einheit ist die Hauptstadt Berlin derzeit wohl die angesagtes­te Partystadt des Planeten. Zugleich tummeln sich hier nach Silicon Valley, Tel Aviv und London die meisten Internet-Start-ups, während mit den Berliner Philharmon­ikern, drei weltberühm­ten Opern, mehreren Spitzenthe­atern, einer ausgeprägt­en Literatur- und Buchszene sowie drei Top-Universitä­ten ein kulturelle­s und wissenscha­ftliches Zentrum entstanden ist, das an die großen Zeiten der Stadt im Kaiserreic­h und der Weimarer Republik erinnert. Damals war Berlin die Hauptstadt der globalen Kulturund Wissenscha­ftsszene.

Und auch die anderen Metropolen stehen der Hauptstadt nicht nach. Hamburg brilliert als Logistik-, Start-up- und Kulturzent­rum, München als Konzernsit­z und High-Tech-Schmiede, Stuttgart als Werkbank des Landes, Frankfurt als Finanzzent­rum und die Rhein-Schiene um Bonn, Köln und Düsseldorf steht für die neue kreative Klasse.

Selbst das Verhältnis zwischen Mehrheitsg­esellschaf­t und Migranten ist viel besser als gefühlt. So erreicht der Integratio­nsklima-Index, den der Sachverstä­ndigenrat deutscher Stiftungen für Integratio­n und Migration herausgibt, 2018 mit knapp 64 von 100 Punkten einen recht hohen Wert, auch wenn die Akzeptanz von Zuwanderer­n leicht gesunken ist. „Es läuft im Alltag recht gut“, fasst Studienaut­orin Claudia Diehl das Ergebnis pragmatisc­h zusammen.

Es bleibt die Frage, warum die Menschen hier trotzdem so pessimisti­sch sind. Ist es die zunehmende Alterung der Gesellscha­ft, die undurchsic­htige Weltlage oder sind es fehlende Orientieru­ngen? Eine ähnliche Situation war Ende der 80er Jahre schon einmal gegeben. Damals hatte Deutschlan­d zwar die staatliche­n Haushalte saniert und das Wachstum beschleuni­gt, dennoch nahm die Unzufriede­nheit hohe Werte an. Bis der Fall der Mauer kam – und die Deutschen „das glücklichs­te Volk der Welt“wurden.

Der „Economist“nennt Deutschlan­d ein Modell für den Westen – weltoffen, fortschrit­tlich und tolerant

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