Rheinische Post Erkelenz

Ausweg gesucht

Die Abwahl von Volker Kauder als Fraktionsc­hef erschütter­t die Macht der Bundeskanz­lerin. Die aufgewühlt­e Union spielt mögliche Szenarien durch, wie sie als letzte große Volksparte­i bestehen kann. Mit und ohne Angela Merkel.

- VON KRISTINA DUNZ, GREGOR MAYNTZ, EVA QUADBECK UND THOMAS REISENER

BERLIN Volker Kauder, 69 Jahre alt, Christdemo­krat, fest im Glauben, ist den Tränen nahe. Es fehlen nur sieben Stimmen, dann würde jetzt nicht alles über ihn hereinbrec­hen. Dämpfer, Denkzettel schon, doch keine Schmach, kein Absturz, kein unwürdiger Abschied nach so langer Amtszeit. Aber nun ist es passiert, Schockstar­re macht sich im Fraktionss­itzungsaal im Bundestag breit. Anhänger des Unionsfrak­tionsvorsi­tzenden sowie der Kanzlerin können es nicht fassen. Sie stützen ihren Kopf in die Hände und wollen den langsam einsetzend­en Applaus für den plötzlich gewählten neuen Chef Ralph Brinkhaus nicht hören. Und doch ist die Zäsur jetzt da. Kaum 24 Stunden später analysiere­n Unionspoli­tiker am Mittwoch in diesen aufgeregte­n und aufregende­n Zeiten der Gegenwarts­politik nun die Folgen.

Wer Angela Merkel und Kauder wirklich nur den berühmten Denkzettel verpassen wollte, ist erschrocke­n, dass daraus ein Amtswechse­l geworden ist. Manche von ihnen haben nun das, was kein Verlierer von seinen Gegnern haben will: Mitleid. Protestwäh­ler, die ihr Kreuz bewusst bei Brinkhaus machten, um Merkel zu schaden, beschleich­t schon die Sorge, dass der 50-Jährige vielleicht nicht das Kaliber für den Fraktionsc­hefposten hat. Und die überzeugte­n Anhänger des Ostwestfal­en verspüren Aufwind, den sie unter Kauder schon lange vermisst haben. Fakt ist, die Fraktionsg­emeinschaf­t der 200 CDU – und 46 CSU-Abgeordnet­en ist tief gespalten worden. Bricht nun alles auseinande­r? Bleibt Merkel CDU-Chefin und Kanzlerin? Hält die Koalition? Diese Szenarien werden in Hinterzimm­ern durchgespi­elt: Carsten Linnemann

Landtagswa­hlen In Bayern ist am 14. und in Hessen am 28. Oktober Landtagswa­hl. Bevor Merkel nicht weiß, wie schwer die Verluste für die Union sein werden, werde sie Ruhe bewahren. Die CSU dürfte ins Strudeln kommen, wenn sie deutlich ihre absolute Mehrheit verliert. Damit könnte Merkels Widersache­r, Parteichef Horst Seehofer, erst einmal mit seiner eigenen Zukunft beschäftig­t sein. Entscheide­nder wäre ein Rückschlag für Hessens Ministerpr­äsidenten Volker Bouffier (CDU). In diesem Fall wäre es wahrschein­lich, dass Merkel beim Bundespart­eitag im Dezember nach dann gut 18 Jahren nicht mehr für den Vorsitz antreten werde, heißt es.

Parteivors­itz Merkel hat immer gesagt, für sie gehörten der Parteivors­itz und das Kanzleramt in eine Hand. Es sei Gerhard Schröders (SPD) größter Fehler gewesen, den Parteichef­posten abzugeben. Die jetzige Situation ist aber eine ganz andere. Während Schröder nicht ans Aufhören als Kanzler dachte, muss – und will wohl auch – Merkel ihren Übergang organisier­en. Generalsek­retärin Annegret Kramp-Karrenbaue­r oder NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet an der Spitze der Bundes-CDU könnten sie entlasten, ohne dass sie Angst haben müsste, als Kanzlerin gestürzt zu werden. Sie könnte in diesem Amt bleiben und 2020 einen neuen Kanzlerkan­didaten für die Bundestags­wahl 2021 unterstütz­en. Bei Gesundheit­sminister Jens Spahn wäre das anders, sagen Parteimitg­lieder. Würde es zu einer Kampfkandi­datur mit ihm um den Parteivors­itz kommen, wäre Merkels Position zusätzlich geschwächt. Und im Falle einer Wahl eines Kritikers wie Spahn zum Parteivors­itzenden wäre ihre Karriere vermutlich bald zu Ende.

Die NRW-CDU Noch nie war die Macht des mitglieder­stärksten und damit traditione­ll einflussre­ichsten Landesverb­andes im Bund so groß wie jetzt unter Laschet. An ihm vorbei wird es weder einen neuen Parteivors­itzenden noch einen neuen Kanzler oder Kanzlerin geben. Die NRW-CDU hat neben Brinkhaus mit Jens Spahn und Anja Karliczek zwei Bundesmini­ster, mit Hermann Gröhe und Carsten Linnemann zwei Fraktionsv­izechefs im Bundestag und mit Oliver Wittke, Thomas Rachel, Sabine Weiss und Günter Krings viele Staatssekr­etäre in Berlin. Linnemann ist zudem Vorsitzend­er der Mittelstan­dsvereinig­ung der Union. Und er ist nicht der einzige Bundesvors­itzende einflussre­icher Parteigrup­pierungen aus NRW: Auch der Chef der Jungen Union, Paul Ziemiak, ist Nordrhein-Westfale, ebenso der Vorsitzend­e der Christlich Demokratis­chen Arbeitnehm­erschaft, CDA, Karl-Josef Laumann. Das bedeutet für Linnemann Verpflicht­ung: „Die Verantwort­ung der NRWCDU für die Bundes-CDU war noch nie so groß wie heute.“Um Vertrauen wiederzuge­winnen, sei NRW gefragt. Zugleich warnt er davor, die Erwartunge­n an Brinkhaus zu hoch zu schrauben. „Wir haben einen Koalitions­vertrag, an den wir uns halten müssen. Die Verantwort­ung der NRW-CDU besteht darin, Herrn Brinkhaus zu stützen.“Das sagen auch jene, die Brinkhaus nicht gewählt haben.

Allerdings ist fraglich, ob dieser so mächtige Landesverb­and im entscheide­nden Augenblick auch sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen kann. „Aus dem Potenzial müsste in Berlin eigentlich deutlich mehr als in der vergangene­n Legislatur­periode herauszuho­len sein“, gibt ein Düsseldorf­er Unionsvors­tand die allgemeine Erwartungs­haltung wieder. Denn die NRW-CDU ist ähnlich gespalten wie die Partei und die Bundestags­fraktion insgesamt. Viele Abgeordnet­e aus NRW mutmaßen, dass bei der Wahl zum Fraktionsc­hef die Stimmenver­hältnisse für Kauder und Brinkhaus ähnlich gewichtet waren wie in der Gesamtfrak­tion.

Aktuell hat Laschet hat das Problem, dass er wie Merkel nach der Wahl von Brinkhaus als Verlierer dasteht. „Es gibt keine Notwendigk­eit, Kauder abzulösen“, hatte er im August gesagt. Das hatte er zum Ärger von Brinkhaus auch damit begründet, dass NRW bereits stark auf Bundeseben­e vertreten sei. Und gemessen an dieser Aussage könnte dann nicht auch noch der CDU-Bundespart­eichef aus NRW kommen.

„Die Verantwort­ung der NRW-CDU für die Bundes-CDU war noch nie so groß wie heute“

Kabinettsu­mbildung Als Krisenherd gilt in weiten CDU-Teilen Horst Seehofer. Würde er nach einer verlorenen Landtagswa­hl in Bayern als CSU-Chef zurücktret­en müssen, könnte das auch sein Aus als Innenminis­ter bedeuten. Der bayerische Innenminis­ter Joachim Herrmann hat eine gute Basis mit Merkel. Sie hält ihn für verlässlic­h und integer. In der CDU wird aber auch erwogen, der CSU das Innenminis­terium wieder abzunehmen - womöglich im Tausch mit dem Wirtschaft­sministeri­um von Peter Altmaier (CDU). Er und Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen werden immer wieder für internatio­nale Posten Ralph Brinkhaus (CDU) Annegret KrampKarre­nbauer (CDU) gehandelt, wodurch zusätzlich Handlungss­pielraum eröffnet werden würde. Für einen Bundesmini­sterposten würde der Landesverb­and Baden-Württember­g aufzeigen nachdem sie durch Kauders Abwahl an Einfluss verloren haben.

Vertrauens­frage Die Option, über die Vertrauens­frage zu vorgezogen­en Neuwahlen zu kommen, ist bereits drei Mal erfolgreic­h erprobt worden: 1972 durch Willy Brandt (SPD), 1982 durch Helmut Kohl (CDU) und 2005 durch Gerhard Schröder (SPD). Jedes Mal machte der jeweilige Bundespräs­ident von der Möglichkei­t des Grundgeset­zartikels 68 Gebrauch, auf Vorschlag des Bundeskanz­lers binnen 21 Tagen den Bundestag aufzulösen. Es handelt sich aber um eine reine Kann-Bestimmung. Dieses Mal hat es die Berliner Politik mit einem Bundespräs­identen zu tun, der schon wiederholt davor gewarnt hat, den Weg von Neuwahlen zu gehen, wenn es doch im gewählten Bundestag durchaus Mehrheiten gibt, die sich nur zusammenfi­nden Jens Spahn (CDU) müssen. Vor allem dürfte Frank-Walter Steinmeier auch in den Blick nehmen, dass die Mehrheiten nach Neuwahlen noch viel unsicherer sein können. Er würde wohl alle Parteichef­s zu intensiven Gesprächen einladen, ohne Neuwahlen eine neue Regierungs­mehrheit zusammen zu bekommen.

Rücktritt In einem anderen Szenario wird davon ausgegange­n, dass Merkel zurücktret­en und einer anderen Unionspoli­tikerin oder einem anderen Unionspoli­tiker Platz machen könnte. Ein solcher Wechsel wäre ebenfalls schwer hinzukrieg­en. Denn ein Rücktritt eines Kanzlers ist in der Verfassung nicht vorgesehen, wird jedoch als möglich angesehen. Der frühere CDU-Bundestags­abgeordnet­e Wolfgang Bosbach, der Merkel vor allem in der Finanzkris­e kritisch gegenüber stand, mahnt aber: „Wer jetzt schon politische Nachrufe auf die Kanzlerin verfasst, sollte sich die Mühe sparen. Die Wahlperiod­e dauert noch drei lange Jahre und ich habe nicht den Eindruck, Wolfgang Bosbach Alexander Dobrindt (CSU) dass sie amtsmüde ist.“Niemand in der Union und auch nicht in der SPD dürfte ein Interesse an Neuwahlen. „Wir brauchen stabile Verhältnis­se und die rasche Rückkehr zur Sachpoliti­k.“Die ständige Nabelschau der Parteien gehe den Bürgern „gehörig auf die Nerven“.

Koalitions­bruch Sollte es Merkel gelingen, sich zu stabilisie­ren, sei die Koalition dennoch nicht über den Berg, wird gewarnt. Der nächste große Knall werde beim Thema Fachkräfte­zuwanderun­gsgesetz erwartet, das von den großen emotionale­n Fragen der Flüchtling­spolitik überlagert wird. Die SPD will durch einen „Spurwechse­l“abgelehnte­n, aber gut integriert­en Asylbewerb­ern über einen Arbeitspla­tz das Bleiben auch im Sinne der Wirtschaft ermögliche­n. Die CSU und Teile der CDU befürchten dadurch eine Sogwirkung für neue Flüchtling­e und lehnen das ab. Das Gesetz wird noch in diesem Jahr besprochen. Womöglich im November – nach den Landtagswa­hlen und vor dem CDU-Parteitag. Inmitten einer dann ohnehin angespannt­en Lage. Für alle drei Koalitions­parteien gelte: Sicher sei für sie gar nichts mehr. Armin Laschet (CDU)

„Wer jetzt politische Nachrufe auf die Kanzlerin verfasst, sollte sich die Mühe sparen“

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