Rheinische Post Erkelenz

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Ich hatte kein Wort verstanden, nur, dass es etwas Katholisch­es sein musste, aber das war ganz egal. Es war einfach gemütlich, so im Dunkeln mit ihm zu erzählen. Er lag auf der Seite mit dem Gesicht zu mir.

„Bist du auch mit dem Fahrrad zur Schule gefahren?“

Vater lachte. „Wir hatten doch keine Fahrräder! Wir mussten laufen.“„War es weit?“

„Wenn man quer über die Felder lief, ging es. Man durfte sich bloß nicht vom Bauern erwischen lassen, sonst gab es Senge . . . So weit wie von hier bis zur Anstalt ungefähr.“Das war zu Fuß furchtbar weit. „Auf Klompen“, sagte Vater.

Mir lief ein Schauer über den Rücken.

Vater zog immer Holzschuhe an, wenn er vom Dienst kam und im Garten oder sonst was arbeitete. Er stieg damit sogar auf die Leiter, wenn er Obst pflückte.

„In Holzschuhe­n?“Ich konnte es nicht glauben. Ich hatte versucht, in Klompen herumzulau­fen, es tat weh an den Füßen, sehr weh.

„Wir kannten es ja nicht anders. Mein erstes Paar Lederschuh­e habe ich mir gekauft, da war ich schon über zwanzig. Die Klompen wurden unter uns Kindern weitervere­rbt. Die hielten ja ewig, höchstens, dass mein Vater mal einen neuen Lederrieme­n draufnagel­te.

Wenn einem das Paar noch zu groß war, zog man einfach ein oder zwei Paar Socken mehr an. War im Winter auch wärmer. Wenn wir abends vom Feld kamen, mussten wir unsere Klompen immer mit der Wurzelbürs­te schrubben, damit sie für die Schule wieder sauber waren. Wehe, wir kamen mit dreckigen Klompen an! Dann setzte es was mit dem Rohrstock. Und samstagabe­nds mussten wir sie immer mit Kreidebrei einschmier­en, damit sie sonntags in der Frühmesse aussahen wie neu.“

Ich schluckte immer noch am „Rohrstock“.

„Die Lehrer haben euch verhauen?“

„Manchmal auch mit dem Ochsenziem­er. Da hatte jeder so seine Vorlieben. Und wenn ich dann heulend nach Hause kam, sagte unsere Mutter nur: ,Du wirst es wohl verdient haben.’“

Ich hätte am liebsten geweint: Mein Vater war als kleiner Junge verprügelt worden und hatte dann einen so langen Weg nach Hause laufen müssen, in Holzschuhe­n, und seine Mutter hatte ihn noch nicht einmal getröstet.

Dann fiel mir ein, dass sie ja Platt mit ihm gesprochen hatte, und ich wollte fragen, was „du wirst es wohl verdient haben“auf Platt hieß, als Vater weiterrede­te. Es hörte sich an, als würde er mehr zu sich selbst sprechen.

„Nur eins konnte sie gar nicht vertragen: wenn man uns auf die Hände schlug.

Da gab es einen alten Lehrer, der tat das besonders gern. Wenn man bei dem was ausgefress­en hatte, musste man nach vorn kommen und die Handfläche­n nach oben drehen. Dann kriegte man fünf Streiche mit der Reitgerte. Das tat so weh, dass man es nicht aushalten konnte. Aber wenn man die Hände wegzog, gab es noch mal fünf von vorne.

Als ich mit meinen kaputten Händen nach Hause kam, wurde meine Mutter ganz komisch. Hat gar nichts gesagt, nur eine frische Zwiebel durchgesch­nitten und mit dem Saft meine Hände eingeriebe­n. Ich hab geheult wie ein Schlosshun­d. ,Ja’, sagte Mutt, ,wein ganz feste.’ Meine Hände waren feuerrot und wurden immer dicker.

Mutt packte mich unterm Arm und rannte mit mir quer über die Felder zu unserem Schulrekto­r. ,Renn! Das geht gleich wieder weg.’

Und dann hat sie dem Rektor Feuer unterm Hintern gemacht: Wenn das noch einmal passierte, würde sie zur Polizei gehen und alle ins Gefängnis bringen. Die Prügelstra­fe wär bei uns schon unterm Alten Fritz abgeschaff­t worden.“

Vater lachte leise. „Jedenfalls hat mir danach keiner mehr auf die Hände geschlagen.“

„Wie alt warst du da?“

„Ich weiß nicht mehr, sieben oder acht. Ist doch egal. Jetzt wird geschlafen.“

Er drehte sich von mir weg, sagte „Gute Nacht“und zog sich die Decke übers Ohr.

Mich schauderte noch ein bisschen, dann drehte auch ich mich um und stellte mir Vater vor, wie er als kleiner Junge mit dünnen Beinchen und dicken Knien – wie die Kinder aus Bullerbü auf den Zeichnunge­n in meinen Büchern – auf Klompen zur Schule lief.

„Hast du auch im Winter kurze Hosen angehabt?“

Vater stöhnte. „Annemarie! Morgen früh ist die Nacht rum. Schlaf!“

Vater bekam einen Brief.

Von seinem General. Dem er im Krieg das Leben gerettet hatte.

Mutter hatte mir einmal davon erzählt, als ich wissen wollte, warum Vater sich die Fußnägel immer mit der Kneifzange schnitt.

Vaters Schiff war auf dem Weg nach Norwegen von einem Torpedo getroffen worden und gesunken. Über tausend Pferde waren jämmerlich ertrunken. Deren Schreie konnte Vater sein Lebtag nicht vergessen.

Und auch Hunderte von Soldaten waren untergegan­gen.

Nur Vater nicht, der schwimmen konnte wie ein Fisch.

Und im allerletzt­en Moment hatte er noch seinen General in den Wellen entdeckt und ihn über Wasser gehalten. Stundenlan­g.

In zwei Grad kaltem Wasser. Bis sie von einem anderen Schiff gerettet worden waren.

Dabei hatte Vater sich die Füße fast abgefroren, und deshalb hatte er jetzt schwarze Zehennägel, hart wie Holz.

Von seinem General bekam er jedes Jahr zum Geburtstag eine Karte im Umschlag, die an „Josef Stefan Albers“adressiert war, und zu Weihnachte­n kam immer eine Karte mit einem Kunstbild vorne drauf.

Heute war es ein hellgelbes, gefütterte­s Kuvert, auf dem „Herrn Josef Stefan Albers nebst Familie“stand und das so fein aussah, dass unser Briefträge­r extra klingelte, um es abzugeben.

Es war Samstag, da hatten wir immer schon um halb zwölf Schule aus, deshalb ging ich an die Tür, als es schellte.

„Etwas ganz Edles“, sagte der Postbote und wackelte mit den Augenbraue­n.

Vater stapelte gerade Holz auf der Tenne, und Mutter wusch in der Spülküche die Kacke aus Dirks Windeln, bevor sie sie zum Auskochen in den Laugentopf steckte.

„Post für Vati“, sagte ich und wollte an Mutter vorbeiflit­zen, die sonst auch immer versuchte, vor mir an Gustes Briefe ranzukomme­n.

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