Rheinische Post Erkelenz

Luzern – ein Musikfest für alle Sinne

- VON WOLFRAM GOERTZ

Neben Bayreuth und Salzburg bietet die Schweizer Stadt am Vierwaldst­ättersee eines der wichtigste­n Musikereig­nisse in Europa.

LUZERN Wer die Wahl hätte, ob er zur Festspielz­eit lieber nach Bayreuth oder nach Salzburg fahren sollte, könnte kurz überlegen, den Kopf schütteln – und nach Luzern fahren. Das hätte Stil.

Bayreuth erfordert Hitzeresis­tenz und Unterwerfu­ng unter einen sehr anstrengen­den Meister und dessen geistig und zeitlich absorbiere­nde Opern. In Salzburg muss man diese furchtbare Gewalle von Promis und dieses unentwegte Bussibussi ertragen, noch dazu, wenn an allen Ecken Wiener Dialekt ertönt, der nicht nur die Salzburger irritiert. In Luzern ist die Kunst von allem Drumherum gereinigt, in einer unglaublic­hen Dezenz strömen Musikfreun­de aus aller Welt zusammen und haben nur einen Wunsch, nicht aufzufalle­n und gute Musik zu hören – auf Luxusnivea­u. Die Schweizer

In diesem Sommer waren fast alle Orchester von Weltrang zu Gast

lieben bekanntlic­h das Understate­ment, aber es muss schon das Beste sein, und nirgendwo kommt das so gut zum Ausdruck wie beim Festival Lucerne.

Das Angebot ist ja sowieso zu großen Teilen identisch. Große Orchester, die auf Europa-Tournee gehen, fahren in der Regel nach Salzburg und nach Luzern, es tut sich also nichts. In Luzern in diesem Sommer zu Gast: Boston, Berlin, Wien, München, Amsterdam, London, Birmingham, dazu Mahler Chamber, West-Eastern Divan und Chamber Orchestra of Europe. Noch Fragen? Und wer gab sein erstes Europa-Konzert nach langer Krankheit? Der chinesisch­e Pianist Lang Lang.

Als sei das alles noch nicht genug, hat Luzern das Lucerne Festival Orchestra, das im internatio­nalen Musikleben eine singuläre Position einnimmt. Es ähnelt ein wenig dem Bayreuther Festspielo­rchester, nur auf internatio­nalem Level: Vorzüglich­ste Orchesterm­usiker finden sich im Sommer im Luzern ein, um auf höchstem Niveau miteinande­r zu musizieren und große sinfonisch­e Werke aufzuführe­n. An der Solo-Bratsche beispielsw­eise sitzt der langjährig­e Berliner Philharmon­iker Wolfram Christ, am Solocello Clemens Hagen vom Hagen-Quartett, die Englischho­rnistin stammt von Concertgeb­ouw Orchestra, und das letzte Kontrabass-Pult betreut der Solo-Bassist des Orchesters der Mailänder Scala. Ganz Europa ist hier musikalisc­h vereint, das geht kaum besser.

Riccardo Chailly leitet es seit einigen Jahren, er ist nicht der unerbittli­che Zuchtmeist­er, sondern einer, der die richtige Mischung aus Kontrolle und Gewähren-Lassen findet. Das glückt wunderbar bei Ravels „Daphnis und Chloë“, wo sich eine bezaubernd­e Farbpalett­e vor dem inneren Auge des Hörers auftut. Das hat Lust, Dramatik und ist mitnichten vernebelte­r Impression­ismus, sondern vielmehr knackig wie ein frischer Endiviensa­lat; die beiden mythologis­chen Helden sind ja allen Hervorbrin­gungen der Natur innig verbunden. Dagegen mangelt es Bruckners Siebter im Konzert am Abend danach ein wenig an Innenspann­ung. Aber das Orchester klingt abermals superb. Riccardo Chailly ist seit 2016 Chef des Luzerner Spitzenorc­hesters, er ist deutlich anders als sein in Luzern fast mythisch verehrter Vorgänger Claudio Abbado: Chailly schwebt ein sensuelles, gleichwohl hochdramat­isches Musizieren vor. Alle empfinden diesen Ansatz als verheißung­svoll. Langsam wächst man zusammen.

Ein herzliches Wiedersehe­n gab es mit dem bald 90-jährigen niederländ­ischen Dirigenten Bernard Haitink, der mit dem Pianisten András Schiff eine herzliche, spritzige Interpreta­tion früher beherbergt­e das Haus die Mönche des Jesuitenkl­osters gegenüber. In manchen Zimmern stehen zur Dekoration noch die kunstvoll bemalten Kachelöfen von damals – eindrucksv­oll. Weithin bekannt ist im selben Haus das Restaurant von Beethovens Klavierkon­zert Nr. 1 bot. In vielen Momenten merkte man Haitinks immense Erfahrung. Beethovens „Pastorale“hatte danach eine serene Gelassenhe­it, die einen sehr einnahm. Manches Tempo hätte man sich etwas schwungvol­ler gewünscht.

Nun ist das Defilée der Stars das eine. Das andere ist eine sehr durchdacht­e Strategie, das imposante KKL mit einem der schönsten Konzertsäl­e der Welt auch für die weniger Betuchten zu öffnen. Stets knapp eine Stunde vor dem Hauptkonze­rt gibt es ein Mini-Konzert im Luzerner Saal, der sozusagen das Experiment­alfeld des Festivals ist. Dort gab es eine köstliche Wiedergabe der „Liebeslied­er-Walzer“von Johannes Brahms mit Solisten des Chors des Bayerische­n Rundfunks, der kleine Saal war rappelvoll. Nicht minder gut besucht war der Erlebnista­g, bei dem es zu Beginn zu einem wahren Spektakel kam, der Aufführung von „Schraffur“mit – wie es hieß – „300 Mitwirkend­en aus der Zentralsch­weiz“.

Im ganzen Haus vom Keller bis unters Dach und im großen Saal rieben Amateure und einige Anleiter zwei speziell präpariert­e, geriffelte Holzstäbe aneinander, mal leise, man laut, man langsam, mal schnell – es entstand ein infernalis­ch witziges Grillenkon­zert unter Leitung des guruhaften Fritz Hauser, wonach der ganze Saal gluckste vor Vergnügen. Nicht minder eindrucksv­oll der „Instrument­en-Parcours für Kinder“oder das „Filmkonzer­t für die ganze Familie“mit Charlie Chaplins „The Kid“. Bei einer Aufführung von Kurtágs „Stele“konnte man sogar mitten im Orchester sitzen. Hier wurde das Festival-Motto „Kindheit“mit allen Sinnen spürbar – entweder man war deutlich unter 18 Jahren oder fühlte sich so.

Noch mal zurück auf Anfang. Wohin also? Bayreuth hat einen Hügel, zu dem man pilgert, Salzburg eine verzwergte Innenstadt mit Fluss. Luzern hat den Vierwaldst­ättersee. Und man fährt mit Zug oder Bus sozusagen bis in den Konzertsaa­l hinein. Und sogar mit dem Schiff.

 ?? FOTO: PETER FISCHLI/ LUCERNE FESTIVAL ?? Mit Mahlers Symphonie Nr. 8 eröffnete Riccardo Chailly im Jahr 2016 seine Amtszeit als neuer Chef des Lucerne Festival Orchestra.
FOTO: PETER FISCHLI/ LUCERNE FESTIVAL Mit Mahlers Symphonie Nr. 8 eröffnete Riccardo Chailly im Jahr 2016 seine Amtszeit als neuer Chef des Lucerne Festival Orchestra.
 ??  ?? In Luzern sollte man sich den Spaziergan­g nach Tribschen, Richard Wagners Asyl von 1866 bis 1872, nicht entgehen lassen. Im dortigen Wagner-Museum gibt es derzeit die Ausstellun­g „Wagner im Comic“. Man kann auch selbst zeichnen.
In Luzern sollte man sich den Spaziergan­g nach Tribschen, Richard Wagners Asyl von 1866 bis 1872, nicht entgehen lassen. Im dortigen Wagner-Museum gibt es derzeit die Ausstellun­g „Wagner im Comic“. Man kann auch selbst zeichnen.
 ?? FOTOS (3). CHRISTIANE KELLER ?? Aufführung von „Schraffur“von Fritz Hauser mit 300 Mitwirkend­en im gesamten Gebäude des KKL in Luzern – hier ist eine Teilgruppe im Kellergesc­hoss aktiv. Die Musiker reiben präpariert­e Holzstäbe aneinander.
FOTOS (3). CHRISTIANE KELLER Aufführung von „Schraffur“von Fritz Hauser mit 300 Mitwirkend­en im gesamten Gebäude des KKL in Luzern – hier ist eine Teilgruppe im Kellergesc­hoss aktiv. Die Musiker reiben präpariert­e Holzstäbe aneinander.

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