Rheinische Post Erkelenz

Ganz und gar

Nicht nur Filets gehören auf den Teller, sagt Spitzenkoc­h Jürgen Kimmig. Er empfiehlt in seinem Buch „Die ganze Kuh“, auch ungeliebte Teile wie Nierchen oder Backe zu verarbeite­n.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Schwanz Nieren

FLeber Ochsenschw­anzragout leisch essen ohne Reue – dieser Wunsch treibt immer mehr Menschen um. Auch aus diesem Grund boomen Biosiegel, signalisie­ren sie doch eine artgerecht­ere Haltung. Vielen geht das aber nicht weit genug, Tierschütz­er beispielsw­eise kritisiere­n den Entfremdun­gsprozess, den Fleisch durch die industriel­le Verarbeitu­ng durchläuft – liegt es erst einmal hübsch eingeschwe­ißt im Supermarkt­regal, erinnert nichts mehr an das Tier, das dafür gestorben ist. Auch die Art des Fleisches gibt darüber keine Auskunft, in der Regel handelt es sich um Filet, Steak oder Hack. An diesem Punkt setzt auch Spitzenkoc­h Stefan Kimmig an: Mit seinem Kochbuch „Die ganze Kuh“wirbt er dafür, das Rind komplett zu verwerten, so wie es die Bauern in seiner Kindheit auch getan haben. „Nose to Tail“lautet das Prinzip – von der Nase bis zum Schwanz landet alles auf dem Teller.

Kaum vorstellba­r, wenn man sich die Statistike­n betrachtet. Danach werden heute nur noch rund 50 Prozent eines Nutztiers nachgefrag­t, und zwar vor allem das vermeintli­ch hochwertig­e Fleisch, nämlich Filets und Steaks. Der Verbrauch von Innereien beispielsw­eise ist von 1,5 Kilogramm pro Person im Jahr 1984 auf rund 100 Gramm im Jahr 2015 zurückgega­ngen. Früher gängige Gerichte wie „Saure Nierchen“, „Saure Kutteln“(aus dem Kuheuter oder Pansen), „Saures Herz Lüngerl“oder „Labskaus“(gepökelte Rinderbrus­t) finden sich weder auf den Menüs der Restaurant­s noch auf dem heimischen Speiseplan. Durch die industriel­le Produktion muss heute niemand mehr auf diese billigen „Abfallprod­ukte“zurückgrei­fen, weil sich jeder ein Steak leisten kann. Für Kimmig eine bedenklich­e Entwicklun­g.

Mit seinem Kochbuch will er gegensteue­rn. Alle Gerichte sollen alltagstau­glich sein, sind dementspre­chend bewusst einfach gehalten und lassen sich mit gängigen Zutaten zubereiten. Kimmig vermittelt die einzelnen Schritte anschaulic­h und erklärt sowohl Begrifflic­hkeiten als auch die wichtigste­n Handgriffe. Dazu gibt es kleine Fotoexkurs­e, in denen alle Körperpart­ien der Kuh verortet und ihre mögliche Verwendung in der Küche beschriebe­n werden. Von Hals und Nacken über Zunge und Backen bis zu Nieren und Schwanz, für fast alles gibt es ein geeignetes Rezept. Insgesamt 90 versammelt das Buch, vom „Geschmorte­n Rinderbauc­h mit Sherrysauc­e, Waldpilzen und Rotkohl“über „Gaisburger Marsch mit Rinderbrus­t und Meerrettic­h“bis zu „Gefülltem Kalbsrollb­raten mit Tomaten, Pinienkern­en und Thymian“– allesamt so ansprechen­d fotografie­rt, dass man direkt loslegen möchte.

Fehlt nur noch das passende Fleisch, das sich ja nun eben nicht an der nächsten Kühltheke beschaffen lässt. Auch hier will Kimmig mit seinem Buch ein Umdenken anstoßen Philipp Brosi Fleisch-Sommelier Hals und Nacken Sauerbrate­n von der Ochsenback­e Bries Zunge Ochsenmaul­salat – nicht nur hin zu einem sorgsamere­n Umgang mit dem Fleisch, sondern auch zu mehr Verantwort­ung für die Kreatur. Nur wer direkt aus der Hofschlach­tung kauft oder bei Metzgern, die zuverlässi­g Auskunft geben können über ihre Lieferante­n, kann sich ein Bild machen von der Haltung der Tiere.

Das ist auch Philipp Brosi von der gleichnami­gen Metzgerei in Düsseldorf wichtig. Der Fleischerm­eister hat sich zudem zum Fleisch-Sommelier ausbilden lassen, um gerade auch die Partien des Tiers zu würdigen und an den Kunden zu bringen, die nicht so große Wertschätz­ung erfahren. „Ob Schwein oder Kuh, das ganze Tier ist hochwertig, nicht nur das Filet“, sagt Brosi. Mittlerwei­le gebe es in der Metzgerei vermehrt Nachfragen beispielsw­eise nach Innereien oder anderen Partien. Als Beispiel für einen Teil der Kuh, aus dem sich schmackhaf­te Gerichte zubereiten lassen, nennt Brosi den Nierenzapf­en. Wichtig sei es dabei, das Fleisch nach der Schlachtun­g reifen zu lassen. „Nierenzapf­en waren jahrelang aus den Auslagen der Backen Kopf Metzger verschwund­en“, sagt Brosi. Das ändere sich gerade wieder.

Ebenfalls eine Renaissanc­e erlebt haben die Ochsenbäck­chen, die, wie der Name schon sagt, aus der Backe des Rinds stammen. Weil die Kaumuskula­tur sehr sehnig sei, müssten die Bäckchen aber lange geschmort werden. „Dafür wird man mit einem unheimlich intensiven Geschmacks­erlebnis belohnt“, sagt Brosi. Auch intensiv, aber deutlich gewöhnungs­bedürftige­r sei dagegen der Geschmack und der Geruch von Pansen. Brosi: „Das muss man schon mögen.“Was ihn nicht daran hindert, in der Metzgerei das gesamte Tier zu verwerten.

Hinter Trends wie „Cow-Sharing“oder „Crowd-Butching“steht derselbe Gedanke. So bieten etwa Internet-Start-ups wie kaufnekuh.de oder besserflei­sch.de das Gefühl, nah am Erzeuger zu sein. In beiden Fällen funktionie­rt das Prinzip so, dass die Portale mit festen, zertifizie­rten Höfen zusammenar­beiten. Angeboten werden unterschie­dlich zusammenge­setzte Fleisch-Pakete, und erst wenn ausreichen­d viele Bestellung­en eingegange­n sind, wird das Rind geschlacht­et. Dabei betonen beispielsw­eise die Betreiber von besserflei­sch.de, dass auch die Innereien des Tiers verzehrt oder an Restaurant­s und Futtermitt­elherstell­er verkauft werden. Selbst die Kuhfelle werden vermarktet, zumindest aber gegerbt. Und wer Knochen für einen Fond oder die Suppe haben will, kann auch die bekommen. Übrig bleibt von der Kuh am Ende: nichts.

„Ob Schwein oder Kuh, das ganze Tier ist hochwertig, nicht nur das Filet“

Jürgen Kimmig, „Die ganze Kuh: 90 Rezepte für Feinschmec­ker“, Olivia Verlag, 224 S., 27,90 Euro

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QUELLE: OLIVIA VERLAG | FOTOS: DIRK TACKE (3), DPA | TEXT: DIE GANZE KUH | GRAFIK: PODTSCHASK­E
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