„Ich bin der Timo“
Seit zwei Jahrzehnten ist Timo Boll (37) einer der besten Tischtennisspieler der Welt. Über sich spricht er immer noch nicht gerne. Es heißt aber, er sei dann temperamentvoll, wenn er spielt. Also spielen wir mit ihm.
DÜSSELDORF Da steht er also. Zur verabredeten Uhrzeit im Tischtennis-Zentrum am Staufenplatz. Timo Boll weiß noch nicht, was genau in den nächsten anderthalb Stunden auf ihn zukommt. Den Plan erfährt er erst jetzt. Boll hört zu, bietet gleich das Du an und verrät dann mit einem genügsamen Nicken, dass er einverstanden ist mit der Tour an drei Orte in der deutschen Tischtennis-Hauptstadt Düsseldorf.
Blauer Pullover, dunkelblaue Hose, nachtblaue Schuhe. Boll ist unscheinbar. Der freundliche Mann von nebenan. Er gehe „besser mal kurz die Jacke holen“, sagt der Mann, der der Kaiser von China sein könnte.
Timo Boll (37) ist seit zwei Jahrzehnten einer der besten Tischtennisspieler der Welt. Leicht ist es, ihn auf Anhieb sympathisch zu finden. Ungleich schwieriger ist es, eine andere Seite von ihm kennenzulernen. Vor allem als junger Profi galt er als schüchtern und wortkarg. Einer, der nicht gern über sich spricht, aber gern für sich ist. Boll, der Bodenständige. Immer fair am Tisch. Keine Ecken und Kanten. Dabei wüsste man so gern, was ihm durch den Kopf geht, wenn er etwa den Chinesen die Stirn bietet. Was Boll macht, wenn er nicht spielt. Wie er es fertig bringt, seit so langer Zeit erfolgreich zu sein. Und was den gebürtigen Hessen bewegt, wenn er Zeit in Düsseldorf verbringt.
Den Journalisten Friedhard Teuffel hat Boll ungewöhnlich nah an sich herangelassen. Zusammen haben sie gerade das Buch „Timo Boll: Mein China“überarbeitet und neu aufgelegt. Teuffel sagt, Boll offenbare sein Temperament, wenn er Tischtennis spielt. Also spielen wir mit ihm.
Boll sieht die Mini-Tischtennisplatte in der Halle von Borussia Düsseldorf. Kaum hat er den Schläger in der Hand, bestätigt es sich schon: „Auf der Kleinen?“, sagt er, „da bin ich aber nicht so gut!“Boll lächelt. Sein feiner Humor wird sich im Verlauf der Tour noch des Öfteren bemerkbar machen.
Boll spielt einige Bälle und verrät, dass er ein „Kaffeejunkie“ist und Pekingente liebt. Dass er Borussia – sowohl Düsseldorf als auch Dortmund – der Frankfurter Eintracht vorzieht. Und dass für ihn trotz vieler Reisen die hessische Heimat immer an erster Stelle stand und steht.
Am Mini-Tisch unterläuft ihm wie erwartet kein Fehler. Von seinem Ballgefühl, diesem „Touch“schwärmte sein erster Trainer und Förderer, Helmut Hampl, schon damals. „Er war wie Mozart“, sagte Hampl, „ein Wunderkind“. Mit vier Jahren begann Boll im Keller des Elternhauses in Erbach mit dem Spielen. Mit 15 wurde er beim TTV Gönnern jüngster Bundesligaspieler aller Zeiten. Mittlerweile ist Boll zwölfmaliger deutscher Meister, siebenmaliger Europameister, zweimaliger Weltpokalsieger. Zuletzt stand er im März auf Weltranglistenplatz eins. Boll gewann Team-Silber und -Bronze bei Olympischen Spielen. Dreimal holte er das Triple mit Borussia Düsseldorf, und selbst in der chinesischen Liga hat er erfolgreich gespielt. Boll hat so viele Titel und Trophäen gewonnen, dass der Kellerraum im Elternhaus längst wegen Überfüllung geschlossen sein müsste. Und drei Tage vor unserem Treffen hat er in Paris beim Weltpokal Silber geholt, hat unter anderem das Jahrhunderttalent Tomokazu Harimoto (Japan, 15) besiegt und erst im Finale gegen den Weltranglistenersten Fan Zhendong (China, 21) verloren.
Aus dem talentierten Jungen, der partout nicht ins Internat nach Heidelberg, sondern zu Hause bleiben wollte („Es hätte meine Mutter umgebracht, wenn ich mit acht oder neun Jahren das Haus verlassen hätte!“), ist ein Champion geworden. Auch wenn er sich ganz anders gibt.
Auf der Fahrt durch Düsseldorf kommt Boll ins Erzählen. Er liebe es, Zeit in Cafés zu verbringen. Da liest er oder verschwindet hinter seinem Laptop. In China bilden sich Menschentrauben, wenn er die Straße entlanggeht. In Deutschland „falle ich kaum auf, das ist sehr angenehm.“2007 kam Boll zu Borussia Düsseldorf. „Timo war schüchtern, aber er wusste immer, was er wollte“, sagt Borussias Manager Andreas Preuß. „Es gab nie Theater, wenn es um Verträge ging. Wir wissen, was wir an ihm haben.“Gerade erst hat Boll bis 2022 verlängert.
Anfangs hatte er eine Wohnung in Gerresheim. Gependelt ist er trotzdem häufig. „Ich wollte die Bindung nach Hause nie ganz verlieren“, sagt er. Als Boll und seine Ehefrau Rodelia dann 2014 ein Haus für die mittlerweile dreiköpfige Familie bauen, entscheiden sie sich für ein Grundstück in der 300 Kilometer entfernten Provinz, in Höchst. „Meine Heimat ist im Odenwald. Ich bin auf dem Dorf groß geworden und brauche immer mal die Ruhe dort“, sagt Boll, der eine vierjährige Tochter hat. „Ich bin viel unterwegs, oft in Großstädten. Ich brauche meinen Wald und die Ruhe. Und ich merke, dass ich nirgendwo besser als in meiner Heimat runterkomme.“Boll schaut aus dem Autofenster. Eine Zweitwohnung in Düsseldorf wolle die Familie trotzdem bald beziehen. „Auf die Dauer ist es im Hotel nichts. Wir wollen in Düsseldorf eine zweite Heimat haben.“
Der 37-Jährige ist ein bemerkenswert ausgeglichener Mensch. Er strahlt Ruhe und Zufriedenheit aus. Nach seinen Macken, da müsse man eher seine Frau fragen, antwortet er.
Negative Schlagzeilen gab es in Bolls Vita nie. Als Kind war er Timo, der Pummelige. Seine Mutter hatte ihm für Lehrgänge stets ein Care-Paket gepackt. Als er 17 war, gab es diese eine Mannschaftsreise nach Mallorca. Bolls größte Eskapade fand im Kreise der Tischtenniskollegen statt. Sie endete mit einem Filmriss und einem Teppich voller Erbrochenem.
Wir erreichen die Düsseldorfer Arena. Der Tisch steht schon aufgebaut am Spielertunnel. Ein seltsamer Moment. Der zurückgenommene Boll im Fußballstadion. Also im Wohnzimmer von Vertretern einer Sportart, die um Bodenhaftung und Fannähe ringt. Würde er gerne mal in so einer Arena spielen? „Naja...“Boll mustert die mächtigen Tribünen. „Das ist eigentlich zu groß. Es ist schon sehr unpersönlich.“
Es geht in die zweite Runde. Doch kaum steht Boll am Tisch, da fängt es an zu regnen. Wird er jetzt abbrechen? Und sagen, dass es bei dem Wetter nicht geht? Boll spielt. Er zieht – in seine dicke Jacke gehüllt – einige Topspins und fragt, ob jemand trockene Bälle habe. Jetzt ist es klar: Boll verändert sich beim Spielen nicht wirklich. Vielmehr ist es ein Aufblühen, zu seinen überlegten Worten gesellen sich Gefühle. Im Nieselregen erzählt er vom „Timo Boll Webcoach“. In Lehrvideos verraten er und befreundete Trainer Tipps und Tricks. Er zeigt seine Lieblingsübung – Vorhand und Rückhand in unregelmäßigem Wechsel, „zum Reinkommen und Wachwerden“, sagt Boll. Er freut sich über gelungene Ballwechsel. Und er findet auch noch Zeit, die akkurat geschnittene Rasenkante in der Arena zu kommentieren: „Daran kann ich mir für zu Hause mal ein Beispiel nehmen!“
Das Kontrastprogramm folgt an der dritten Station der Tour. Es ist der eindrücklichste und wohl wichtigste Ort. Knapp anderthalb Stunden nach dem Kennenlernen am Staufenplatz steht Boll in einem Park am Hansaplatz. „An so einer Steinplatte habe ich, glaube ich, vor 25 Jahren im Schwimmbad zuletzt gespielt“, sagt Boll. Mit Blättern und Dreck ist die Steinplatte belegt. Boll ist auch bereit, den Schulhof-Klassiker auszuprobieren: mit Tennisball, ohne Schläger. Zurück zu den Wurzeln. Dahin, wo fast jedes Kind schon einmal gespielt hat. Nur dass die Wurzel langsam austrocknet.
Bolls Karriere ging steil nach oben. Die Mitgliederzahl im Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB) entwickelte sich entgegengesetzt. Der DTTB hatte im Jahr 2002 gut 688.000 Mitglieder. Heute sind es rund 550.000. „Es hängt viel von den Übungsleitern ab. Ich habe das bei meinem Heimatverein gesehen. Es wurde eine Zeit lang weniger gutes Training gemacht, dann ist der Nachwuchs ausgeblieben“, sagt Boll. „Jetzt haben wir gute Trainer, und die Halle ist voll.“Er spricht von einem Teufelskreis, weil Vereinen die Mittel fehlten und das ehrenamtliche Engagement nachlasse. Boll weiß, dass er Glück hatte, „einen der besten Trainer für junge Spieler zu haben, die es gibt“. Hampl, nun DTTZ-Cheftrainer, hatte das Gespür, Boll den Druck zu nehmen und ihn trotzdem zu pushen.
Was aus dem Sport wird, wenn er einmal abtritt? Boll traut Dimitrij Ovtcharov weitere große Erfolge zu und sieht viel Potenzial in Patrick Franziska. Ob sie auch Zugpferde für den Tischtennissport sein können, kann er nicht einschätzen. Aber so weit ist es ja noch nicht. Dafür ist Bolls Liebe zu seiner Sportart noch zu groß. „Es macht mir immer noch viel Freude, ich quäle mich nicht zum Training.“Eine Einheit pro Tag absolviert Boll nur noch am Tisch, dafür mit vollem Fokus. Die zweite Einheit sei Athletik, Kraft und Mentaltraining. Der Siegeshunger ist immer noch groß. Nach vielen Verletzungen (Rücken, Schulter und Knie) steht einzig hinter seiner Gesundheit ein Fragezeichen. Seinen Körper könne er „immer noch nicht ganz einschätzen“.
Olympia 2020 ist ein Ziel. Gold fehlt ihm noch. Vom Titel spricht Boll aber nicht: „Das Bestmögliche“will er erreichen. Wann Timo Boll einmal den letzten Punkt seiner Karriere spielt, bleibt offen. Nicht mehr wichtig ist, ob er diesen letzten Punkt dann macht oder nicht, auch wenn er das anders sieht.
„Hat Spaß gemacht“, sagt Boll dann, nassgeregnet, als mehr als anderthalb Stunden vergangen sind. Er muss jetzt zum Training.
„Auf der kleinen Platte bin ich aber nicht so gut“
„Ich merke, dass ich nirgendwo besser runterkomme als zu Hause“