Vom Scheitern, ohne zu verlieren
Die CDU in Hessen hat herbe Verluste eingefahren – und ist trotzdem erst einmal zufrieden. Angela Merkel kann sich im Amt halten. Zurücklehnen kann sich aber niemand. Die große Koalition im Bund ist in Gefahr.
Wer diese Kunst beherrscht, ist gerettet: Dramatisch abstürzen und trotzdem nicht hart aufschlagen. Das kommt in der Politik selten vor, aber nach der Landtagswahl in Hessen werten die schwer angeschlagenen Christdemokraten von Angela Merkel ihr schlechtes Ergebnis entsprechend glimpflich. Rund zehn Prozentpunkte hat Volker Bouffier nach den ersten Hochrechnungen vom Sonntagabend als Ministerpräsident eines schwarz-grünen Bündnisses im Vergleich zu 2013 eingebüßt. Normalerweise wäre der Machtverlust perfekt und die Polit-Karriere eines 66-Jährigen am Ende. Aber was ist gegenwärtig schon normal? Die CDU bleibt stärkste Partei, weil es den Hauptgegner, die SPD, noch härter trifft, während die AfD auch in den 16. Landtag in Deutschland einzieht und die Grünen den Volksparteien Konkurrenz machen. Angesichts miserabler Umfragewerte für die CDU über Wochen hatte die Volkspartei außerdem ein Abrutschen unter der 30-Prozent-Marke schon eingepreist und konnte sich an den Schrecken langsam gewöhnen. Die Revolte gegen die Parteivorsitzende und Kanzlerin bleibt damit aus. Wenn auch nur vorerst.
Ihre parteiinternen Widersacher hatten sich verabredet, sehr schnell aus allen Rohren zu feuern, wenn die CDU in Hessen nach fast 20 Jahren in Wiesbaden aus der Regierung fliegt. Aber auch, wenn das nicht passiert, sind um die 27 Prozent zu wenig, um von einer Stabilisierung der Vorsitzenden zu sprechen. Die Kritiker warten nur darauf, Merkel zum Verzicht auf den Parteivorsitz zu drängen. Was allerdings auch Merkels Verzicht auf das Kanzleramt nach sich zöge und damit die große Koalition beendet wäre. Eine folgenschwere Entwicklung nach 13 Jahren CDU-geführter Regierung im Bund.
Die hohen Verluste der CDU in Hessen werden zu einem großen Teil Merkel und dem Dauerstreit in der Union um die Flüchtlingspolitik angelastet. Das nehmen Wähler aus dem bürgerlichen Lager am meisten übel: den Endlos-Krach zwischen Merkel und Horst Seehofer. Der CSU-Chef hat nach der für seine Partei desaströsen Bayern-Wahl mit dem Verlust der absoluten Mehrheit wieder einmal seinen Rücktritt angeboten – aber nicht aufrichtig und entschlossen, sondern eher beleidigt. Die CSU hat bisher keine Konsequenzen gezogen, weil sie die Hessen-Wahl abwarten wollte – in der Hoffnung, dass auch Merkel unter Druck gerät. Dann wäre der eigene Schmerz aus CSU-Sicht etwas erträglicher. Seehofers Rücktritt gilt aber auch unabhängig davon zunehmend als unausweichlich. Als Parteichef sowie als Bundesinnenminister, denn solange er in Merkels Regierung bleibt, wird er weiter querschießen.
Dass die CDU bei der Landtagswahl besser als erwartet abgeschnitten hat, mag zum einen Bouffiers Appell geschuldet sein, ihn nicht für etwas zu „bestrafen“, wofür er nichts kann: den Ärger im Bund. Zum anderen hat CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihre Wahlkampftrickkiste gegriffen. Als Ministerpräsidentin im Saarland hatte sie 2017 gewarnt, sie werde der Landespolitik ganz den Rücken kehren, wenn es zu einem rot-roten Regierungsbündnis komme. Sie pokerte hoch und gewann die Wahl mit über 40 Prozent. Kurz vor der Hessen-Wahl stellte sie klar, dass die CDU – sollte die SPD infolge schlechter Ergebnisse in Wiesbaden die Koalition im Bund aufkündigen – kein Jamaika-Bündnis oder eine Minderheitsregierung machen, sondern eine Neuwahl anstreben werde. Diese Botschaft war ihr wichtig: keine Experimente.
Sie hat aber noch etwas getan: Sie hat den Streit in der Union um Merkels Flüchtlingspolitik mit dem Zerwürfnis in der SPD über die von SPD-Altkanzler Gerhard Schröder einst durchgesetzten Sozialreformen verglichen. „Es ist fast ein bisschen so wie bei Gerhard Schröder, der in einer sehr schwierigen Lage mit der Agenda 2010 auch eine Entscheidung getroffen hat, die vor allem in seiner eigenen Partei bis heute nachwirkt“, sagte sie dem „Focus“. Ein heikles Unterfangen. Denn die Agenda 2010 hat zu einer Spaltung der SPD geführt. Ein bisschen wie bei Gerhard Schröder? Ein Hieb gegen Merkel. Kramp-Karrenbauer, die ebenso wie Gesundheitsminister Jens Spahn und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet für ihre Nachfolge gehandelt wird, setzt sich spürbar Stück für Stück von Merkel ab – vielleicht sogar im Einvernehmen mit ihr.
Bouffier gibt am Wahlabend eine Kostprobe der Kunst des Scheiterns, ohne zu verlieren. Die Verluste machten ihn demütig, sagt er. Aber er habe seine beiden Ziele erreicht: Die CDU ist stärkste Kraft geworden und eine Regierung ohne sie – sehr wahrscheinlich – nicht möglich. „Kämpfen lohnt sich“, versichert er. Das ist Bilanz und Prognose zugleich. Denn die Wahl in Hessen wird CDU, CSU und SPD und ihre Koalition in Berlin noch kräftig durchschütteln. Der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der Union, Carsten Linnemann, macht in der Union schon mal den Anfang. Wer das Ergebnis schönrede, habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt, sagt er. „Unsere massiven Stimmenverluste lassen befürchten, dass wir weiterhin dabei sind, unseren Status als Volkspartei zu verlieren.“Spätestens bei der CDU-Vorstandsklausur am nächsten Wochenende müsse die Führungsspitze liefern. Und zwar eine Antwort auf die Frage: „Wie soll unsere Partei die Wende schaffen?“