Rheinische Post Erkelenz

Nachhilfes­tunden eines trickreich­en Lehrers

- VON WOLFGANG HELLFRISCH

Der Autor erinnert sich, wie ein Lehrer in den Nachkriegs­jahren zu Lebensmitt­el und Dienstleis­tungen kam. Die Schüler profitiert­en.

STADTMITTE Die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 und der Währungsre­form im Juni 1948 ging als die Hungerjahr­e nach dem Krieg in die Geschichts­bücher ein. Wir waren alle damals hungrig und das wenige Essbare bestand morgens meist aus etwas klumpigem Maisbrot, das schwer wie ein Stein im Magen lag, und mittags aus Steckrüben. Und das Tag für Tag. 1946 wurde ich in eine anfangs mehr als 50 Sextaner starke Klasse des Math. Nat. im Gebäude der heutigen Musikschul­e an der Lüpertzend­er Straße eingeschul­t. In der Festschrif­t zum 125-Jährigen der Schule heißt es: „31. August 1943: Die Schulgebäu­de werden bei einem Luftangrif­f zerstört. Oktober 1945: Wiedereröf­fnung der Schule mit 671 Schülern, von denen lediglich 81 ein voller Stundenpla­n von mehr als 25 Stunden pro Woche garantiert werden konnte. Probleme beim Wiederaufb­au: Zerstörte Räumlichke­iten, kaum Mobiliar, geringe Anzahl an Lehrern und keine Lehrwerke.

Genau so fand ich die Schule vor. Morgens nahmen wir in der Reihenfolg­e unseres Eintreffen­s auf zu wenigen Bänken Platz, dann auf den breiten Fensterbän­ken und die Letzten auf dem Fußboden. Der einzige Komfort dabei war, dass man sich an der Rückwand anlehnen durfte. Wir schrieben, das Heft auf den Knien balanciere­nd, mit Tinte auf Papier, das jedem Löschpapie­r zur Ehre gereicht hätte, denn Kugelschre­iber gab es noch nicht und vernünftig­es Papier ebenso wenig. Im ersten Winter ohne funktionie­rende Heizung wurden uns nur Hausaufgab­en aufgegeben und von Tag zu Tag wechselnde Termine für unsere nächste Zusammenku­nft bekannt gegeben. Wer nicht hinhörte oder krank wurde, verlor durchaus vorübergeh­end den Anschluss. Für diesen Unterricht erhielt meine Mutter, Kriegerwit­we mit einem bescheiden­en Einkommen, Jahr für Jahr einen Schulgeldb­escheid über 240 Mark.

Jeder versuchte, irgendwie zu überleben, zusätzlich etwas Essbares zu ergattern. Wer über ein freies Fleckchen Land verfügte, sei es der Vorgarten, der Seitenstre­ifen am Haus oder sonstige Kleinstflä­chen, baute etwas Verzehrbar­es an, betrieb Schwarzhan­del, tauschte beim Bauern das Tafelsilbe­r und andere Wertsachen aus Familienbe­sitz gegen Nahrungsmi­ttel. Nun litten unsere Lehrer nicht weniger Hunger als wir Schüler. Ein wenig sympathisc­her Vertreter seiner Spezies ersann für sich eine zwar ungewöhnli­che, aber recht erfolgreic­he, wenn auch nicht ganz legale Überlebens­strategie. Er guckte sich Söhne wirtschaft­lich besser gestellter Eltern aus und prüfte sie in ihren Mathe-Noten soweit herunter, bis er den nichts ahnenden Eltern eröffnen konnte, die Versetzung des Filius sei so gefährdet, dass nur noch Nachhilfe das Blatt wenden könne. Die Eltern, die keine Ahnung hatten, dass ihre Söhne so schlecht stehen sollten und nicht wussten, was sie jetzt tun sollten, nahmen dankbar sein großherzig­es Angebot an, wenn denn schon kein geeigneter Nachhilfel­ehrer verfügbar sei, also wirklich ausnahmswe­ise dem eigenen Schüler Nachhilfe zu erteilen.

Die dankenden Eltern revanchier­ten sich je nach Branche und Verbindung­en des Vaters mit Magenbitte­r, Lebensmitt­eln, Zahnbehand­lungen, Fliesen, Stoffen, aber auch mit handwerkli­chen, medizinisc­hen und anderen Dienstleis­tungen. Die Nachhilfe bestand praktisch nur in der Preisgabe und Bearbeitun­g der Aufgaben der nächsten Mathe-Arbeit. Mehr blieb schließlic­h auch nicht zu tun, wo es sich ja in Wirklichke­it nicht um schlechte Schüler handelte. Der Nachhilfeu­nterricht meines Freundes Klaus, der sich durch die väterliche Zahnarztpr­axis hinreichen­d für Nachhilfe qualifizie­rt hatte, fand regelmäßig im Schlafzimm­er an der Frisierkom­mode statt, dem noch einzigen freien Raum in der Wohnung. Die Sitzgelege­nheiten in den übrigen Räumen befanden sich zeitgleich fest in Händen anderer Nachhilfes­chüler, wie Klaus stets in der Diele an den völlig überlastet­en Garderobeh­aken ablesen konnte.

Als Sohn einer unvermögen­den Kriegerwit­we, bei der aber auch rein gar nichts zu holen war, blieb mir zwar die Frisierkom­mode erspart, dennoch profitiert­e ich vom Insiderwis­sen der besser Betuchten, denn Klaus eilte stets gleich von der Nachhilfe mit den Lösungen der nächsten Mathearbei­t zu mir. Zum Glück hatte der Lehrer angesichts seiner vielen Nachhilfes­chüler deren genaue Sitzpositi­onen nicht im Kopf und gab Klaus daher immer beide Arbeiten mit, also auch meine als dessen Banknachba­r, die ja, um das Abschreibe­n zu verhindern, eine andere war. Als kleine Draufgabe fügte er, da war dieser Gauner wirklich nicht kleinlich, noch die Aufgaben plus Lösungen der nächsten Klassenarb­eiten in Biologie und Physik hinzu. Fächer, die er ebenfalls unterricht­ete. Aber schließlic­h musste die Nachhilfe ja bei den Eltern Wirkung zeigen. Dank Klaus bekam ich auch diese Aufgaben zur Kenntnis.

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