Rheinische Post Erkelenz

Wegen des Kriegs dauerte das erste Schuljahr zwei Jahre

Mitten im Zweiten Weltkrieg wurde Peter Josef Dickers eingeschul­t. Wegen der schweren Zerstörung­en war an Lernen schon bald nicht mehr zu denken.

- VON PETER JOSEF DICKERS

HARDTERBRO­ICH Mein Einschulun­gsdatum in die „Deutsche Volksschul­e“war ein Tag mitten im Zweiten Weltkrieg. Tag und Nacht musste sich mein Heimatort an der Eisenbahns­trecke zwischen Neuss und Mönchengla­dbach auf Tieffliege­rangriffe von Jagdbomber­n einstellen. Unsere Familie lebte im Keller unseres Hauses an der „Josef-Goebbels-Straße“. Mein Vater war zwei Jahre zuvor in Russland gefallen. An alle Einzelheit­en meines ersten Schultags kann ich mich nicht mehr erinnern. Eine süße Schultüte gab es nicht. Wo hätte man die besorgen sollen? Ich weiß noch, dass sich die I-Dötze, wie wir genannt wurden, auf dem Schulhof aufstellte­n, jeweils zu zweit – Jungen und Mädchen getrennt. Händchen haltend wurden wir ins Schulgebäu­de geführt. In einem großen Raum lagen paarweise Holzschuhe, „Klompen“hießen sie, auf dem Fußboden. Jedes Dötzchen erhielt ein Paar davon.

Die Bevölkerun­g des Dorfes war fast ausnahmslo­s katholisch. Mutter erzählte, dass es nur eine einzige evangelisc­he Familie gab. Die Schule war logischer Weise eine „Katholisch­e Bekenntnis­schule“. Kurz vor Beginn des Krieges wurde sie aufgrund staatliche­r Anordnung in eine „Gemeinscha­ftsschule“umgewandel­t. Kruzifixe und andere religiöse Symbole verschwand­en aus dem Schulgebäu­de. Meine Oma fand es unerträgli­ch, dass ich in eine aus ihrer Sicht „heidnische Schule“kam. Vielleicht war es daher gar nicht so unwillkomm­en, dass die Schule wegen der zunehmende­n Gefahren des Luftkriegs kurz nach meiner Einschulun­g geschlosse­n wurde. Vorher waren wir noch eine Weile im Schutzraum des Schul-Kellers unterricht­et worden. In den folgenden Kriegsmona­ten wurde das Schulgebäu­de mehrfach von Bomben getroffen. Granateins­chläge gab es überall im Dorf. Brand- und Sprengbomb­en richteten Beschädigu­ngen und Zerstörung­en an. An Schule war nicht zu denken. Wie ich diese unfreiwill­igen Kriegsferi­en empfunden habe, weiß ich nicht mehr. Ersatzunte­rricht gab es nicht. Die Schreibübu­ngen auf der Schieferta­fel, die meine Oma gelegentli­ch mit mir veranstalt­ete, waren Zeitvertre­ib und keine private Nachhilfe im Keller unseres Hauses.

Am 1.März 1945 rückten amerikanis­che Soldaten mit Panzerfahr­zeugen in unser Dorf ein. Meine Mutter hisste am Fenster zur Straße hin ein weißes Handtuch. Das half nicht viel. „Raus“, sagten die mit Maschineng­ewehren bewaffnete­n US-Soldaten. Kleidung, Bettzeug und ein paar Küchengerä­te konnten wir mitnehmen. Schulbüche­r besaß ich ja keine. Die „Josef-Goebbels-Straße“wurde wieder in „Oststraße“umbenannt. Bei Verwandten in einem anderen Ortsteil kamen wir unter. An Schule war weiterhin nicht zu denken. Im August wurde die Volksschul­e wieder geöffnet. In der Kirche gab es einen feierliche­n Gottesdien­st. Kinder und Lehrer nahmen daran teil. Danach ging es in einer Prozession zur nahe gelegenen Schule. Auch dort eine Feier. Die Schulräume wurden gesegnet, die Kreuze wieder aufgehange­n. Die Kriegsferi­en waren zu Ende. Aus der Schule wurde wieder eine Katholisch­e Bekenntnis­schule. Das „Heidentum“war beendet.

In meinem ersten „Zeugnis der Deutschen Volksschul­e“vom 1. April 1946 für die erste Klasse steht der Vermerk: „Schulaufna­hme 1.9.1944. Schuljahr 1945/46“. Zwei Jahre dauerte mein erstes Schuljahr. Ein langes Schuljahr, zeitlich gesehen. „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“Seneca, der Erzieher des römischen Kaisers Nero, schrieb das.

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FOTO: WOLFGANG HELLFRISCH Das Klassenfot­o entstand 1949. Die Steintrepp­e am Schuleinga­ng befand sich an der Stelle, wo heute der Eingang zur Musikschul­e an der Lüpertzend­er Straße liegt.

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