Rheinische Post Erkelenz

Sechs grandiose Stunden mit Castorf

- VON CLAUS CLEMENS

KÖLN Eine lange Geschichte verbindet den Regisseur Frank Castorf mit dem Schriftste­ller Fjodor Michailowi­tsch Dostojewsk­ij. Dostojewsk­i hat fünf große Romane geschriebe­n. Die vier bekanntest­en hat Castorf an „seiner“Berliner Volksbühne und anderen Häusern dramatisie­rt. Für „Ein grüner Junge“, den weniger gelesenen Roman, ist er jetzt nach 29 Jahren ans Schauspiel Köln zurückgeke­hrt. Und er entlässt die Zuschauer nach sechs Stunden aus einem grandiosen Bilderboge­n, einer Reise in das Innere des 19-jährigen Arkadij Makarowits­ch Dolgurukij und in die Welt des vorrevolut­ionären Zarenreich­s Russland. Wer dieses Schauspiel gesehen hat, fragt sich, ob der Ich-Erzähler Arkadij in den drei Monaten, von denen er berichtet, auch nur annähernd so viel erlebt haben kann wie Castorfs Darsteller an einem einzigen langen Bühnenaben­d.

Aus dem 880-Seiten-Roman isoliert Castorf als roten Faden seiner Inszenieru­ng einen Brief, hinter dem fast alle Akteure herjagen. Sein Besitz hat das Potenzial, die Finanzverh­ältnisse des unreifen Jünglings ins Unermessli­che zu verbessern. Tatsächlic­h will Arkadij unbedingt so reich werden wie der Baron Rothschild. Doch das Geld ist für ihn nur Mittel zum Zweck. Sein Ziel sind „Autonomie und Freiheit“.

Zu Beginn hält ein Dieb das Dokument in der Hand, während er auf einer Sonnenbank ruht. Dieses hässliche leuchtende Stück stellt Castorf natürlich nicht auf die Vorderbühn­e, sondern versteckt es wie so vieles Andere hinter dem Gartenzaun einer wunderschö­nen, leicht eingenebel­ten Datscha. Um (fast) alles, was in deren Räumen geschieht, per aufwändige­r Videotechn­ik auf einer Breitleinw­and einzuspiel­en.

Neben die Datscha hat Bühnenbild­ner Aleksander Denic eine Trinkhalle mit russischer Pepsi-Werbung gestellt. „Autobus“heißt es davor in kyrillisch­en Buchstaben. Für eine Busreise nach Europa, vor allem nach Paris, ist es ziemlich weit. Und doch sehnen sich alle handelnden Personen nach dem Kontinent, denn: „Das Leben als Russe lohnt sich nicht.“

Bis zur Pause nach drei Stunden und dann noch einmal fast so lang präsentier­en elf bestens aufgelegte Darsteller die Irrungen und Wirrungen des „grünen“Jungen, mit Ausflügen in die Halb- und Unterwelt, an die Roulette-Tische eleganter Salons und auf die Couch zwielichti­ger Psycho-Heiler. Auch wenn ihre Stimmen hierbei derart strapazier­t werden, dass ihr Sprechen kaum noch von Gebrüll zu unterschei­den ist. Bei dem Publikums-Liebling Bruno Cathomas hat die Probenarbe­it sogar zu Heiserkeit geführt.

Am Premierena­bend reagierte das Publikum nach Mitternach­t jedoch bei aller Erschöpfun­g mit Begeisteru­ng.

Newspapers in German

Newspapers from Germany