Der „Waalfisch“schwimmt auf dem Marktplatz
200 Jahre Marktrechte in Rheydt: Dies wird gefeiert. Bürgermeister Uli Elsen, ein Ur-Rheydter, erzählt seine Marktplatz-Erinnerungen.
Wenn man in Rheydt – nur unterbrochen durch die Studienzeit – fast 66 Jahre gelebt hat, so nimmt der Marktplatz einen wesentlichen Platz in der Erinnerung ein. Er ist für mich neben den Menschen, den Straßen und Häusern, den Erlebnissen und Erfahrungen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben und die bei der Niederschrift dieses Artikels aus der Tiefe der Erinnerungsschichten hervorkommen, geradezu der zentrale Ort meiner Stadterfahrungen.
Der Marktplatz in Rheydt war der Ort, wo Stadt für mich seit Kindheitstagen spürbar und erlebbar wurde. Bedeutsam war auch der Marienplatz mit der Kirche und dem Kuchenteller – da fuhren die Busse nach Neuss-Uedesheim zur Jugendherberge des Großvaters ab – und der Kaufhof, der Modernität und Weltläufigkeit zum Ausdruck brachte. Immerhin habe ich im Kaufhof als Zweitklässler den Jojo-Weltmeister kennen gelernt! Bedeutsam auch die Hauptstraße mit ihren Angeboten vom Möbelgeschäft, über den ehrwürdigen Tabakhandel bis zum Textil-, Schuh- und Plattenladen.
Aber nichts ging über den Marktplatz, der mittwochs wie samstags an der Hand der Mutter oder auch der Großmutter zum Ziel des Einkaufs saisonaler Köstlichkeiten wurde. Mit der ledernen „Markttasche“ging es über den Marienplatz, wo der freundliche Schutzpolizist auf der Mitte der Kreuzung den Verkehr regelte, den O-Bus durchwinkte und auch schon mal mit lautem Pfiff einen allzu eiligen Radfahrer zurechtwies. Weiter über die Stresemannstraße bis zum alten Schwimmbad (Blaue Zehnerkarte mit perforiertem Abrissstreifen, Kinder für zwei Mark), und dann erwarteten uns unter dem Torbogen des Rathauses schon die ersten Stände.
Der Marktplatz war damals noch nicht verkehrsberuhigt. Es gab Autoverkehr aus der Markt- und der Hauptstraße heraus. Dazwischen die Fuhrwerke der Bauern, Trecker, auch noch Pferdewagen, und dann das bunte Angebot: Obst, Gemüse („Beim Heitzer sinn hüt de Banane jünstisch!“), Blumen je nach Jahreszeit, dazwischen Hühner, Kaninchen, manchmal Gänse und vor Weihnachten lebendige Karpfen in großen metallenen Bütten, vor allem aber Marktschreier, die Messer oder sagenhaft praktische Universalküchengeräte als Weltneuheiten zum Sonderpreis („Billiger krischt irr dat nie mie!“) in unvergleichlicher Weise anpriesen. Als Grundschüler ist mir später häufiger passiert, dass ich an solchen Ständen nach der Schule stehen blieb, die Zeit vergessen konnte, tief beeindruckt von der Sprach- und Fingerfertigkeit des Händlers, der bei seinen Vorführungen eine Unmenge von Möhren oder Kohlköpfen zu feinsten Schnipseln verarbeitete, von denen ich hin und wieder einige zugeschoben bekam. Daheim war man von meinen Erlebnissen dann weniger begeistert, denn wir wollten doch gemeinsam Mittag essen.
War die „Markttasche“voll, ging’s zum Metzger Hoever, wo es für Kinder eine Scheibe Schinkenwurst über die Theke gab. Dann konnte es sein, dass Harry Josten hereinkam, schwarzer Anzug, Melone, Stöckchen – wie Charly Chaplin. Der machte dann im Geschäft einen Handstand und zauberte unversehens ein Ei aus meiner Pudelmütze. Harry war früher ein berühmter Clown und ein Star in der Zirkusmanege gewesen. Jetzt machte er sich einen Spaß daraus, ein Zweimarkstück auf ein Moniereisen zu kleben, die Eisenstange dann heimlich in den Bürgersteig zu versenken, so dass nur noch das Geldstück zu sehen war. Er lachte sich schief, wenn sich die Leute vergeblich nach den zwei Mark bückten. Großes Glück war, wenn der Vater dabei war, denn
der steuerte am Ende „Eis-Sagui“an, wo es für 20 Pfennig zwei Kugeln Schoko-Eis im Hörnchen gab.
Bis heute ist der Wochenmarkt für mich ein Erlebnisraum, der unauflöslich mit dem Begriff „Heimat“verbunden ist, ebenso wie der Marktplatz selbst, der mit der Frühjahrsund Herbstkirmes, dem Karneval, dem Blumenkorso und den unzähligen anderen Veranstaltungen, seien es die Hochseil-Akrobaten der Traber-Renz-Truppe oder diverse Wahlkampfveranstaltungen später (so erinnere ich mich an Willy Brandt in Rheydt) der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens der alten Stadt Rheydt war. Auch das Weihnachtssingen am Heiligen Abend verwandelt den Platz in einen Ort, an dem sich die Menschen unserer Stadt zusammenfinden und spüren, dass sie zusammen gehören.
Im Laufe der Jahre hat sich der Marktplatz deutlich verändert. Die Autos wurden weitgehend aus seiner Umgebung verbannt, der Verkehr anders geleitet, das Verwaltungsgebäude mit dem mächtigen Portal, das jetzt an der Moses-Stern-Straße steht, verschwand und mit ihm die dahinter gelegene alte Stadtbibliothek. Dort konnte der freundliche Bibliothekar, Herr Hucke, uns Kindern die tollsten Abenteuerbücher empfehlen. Ich glaube, er hatte sie selbst gelesen! Die Frittenbude gegenüber Karstadt ist aber noch da, wenn auch zeitgemäß modernisiert. Wie eben auch der Marktplatz.
Das war seinerzeit übrigens ein gutes Beispiel transparenter Stadtplanung, als nämlich der Entwickler, Professor Wachten, unter reger Beteiligung der Bürgerschaft das Konzept einer Neugestaltung konzipierte. Nicht, dass nun alle zufrieden wären, nicht allen gefällt das Ergebnis in Gänze. Doch der Marktplatz erfüllt gemeinsam mit der Hauptkirche und dem Rathaus seine Funktion als Wochenmarkt, als Fest- und Kirmesplatz, als Treffpunkt und Spielplatz am Brunnen, er ist der Mittelpunkt von Rheydt.
Damit erfüllt der Platz seine Funktion wie eh und je. Auch wie damals, als der „Waalfisch“(so spricht man es im Rheinland aus) zu Gast war. Da sagte der Vater am Mittagstisch: „Der Waalfisch schwimmt auf dem Marktplatz, und da gehen wir heute Nachmittag hin!“Nun war mir aus dem Kindergottesdienst die Geschichte von Jonas und dem riesigen „Waalfisch“bekannt, auch hatte Großmutter die Geschichte etliche Male vorgelesen, und ich war fasziniert und geradezu elektrisiert von der Vorstellung, dass dieser „Waal“nun auf unserem Markt schwämme und ich ihn zu sehen bekäme.
Gespannt betrat ich an der Hand des Vaters das große rote Zelt, das auf dem Marktplatz aufgebaut war. Hinter einem Windfang ging’s hinein, und da sah ich ihn. Hell erleuchtet von starken Scheinwerfern war da ein präparierter Pottwal zu sehen, das Maul weit aufgerissen und die riesige Schwanzflosse hoch erhoben. Ja, da passte der Jonas sicher rein! Vorsichtshalber versuchte ich aber nicht, es ihm gleich zu tun. Akzeptiert habe ich dann, dass der „Waal“kein Fisch, sondern ein Säugetier ist, ebenso habe ich akzeptiert, dass dieser „Waal“nun nicht auf dem Marktplatz umher schwamm. Aber immerhin hätte das der Fall sein können, denn groß genug für ein Wasserbecken, in dem der „Waal“hätte umher schwimmen können, war unser Marktplatz allemal.