Rheinische Post Erkelenz

Einheimisc­her Alltag als Touristena­ttraktion

Viele Reisende wollen mit den Einheimisc­hen in Kontakt kommen. Veranstalt­er bieten entspreche­nde Programme. Ist klassische­s Sightseein­g bald Geschichte?

- VON PHILIPP LAAGE

In Nordafrika können Urlauber natürlich die Königsstäd­te Marokkos oder die antiken Tempel entlang des Nils besichtige­n. Solche Gruppenrun­dreisen mit dem Bus und einem klassische­n Sightseein­g-Programm finden sich in den Reisekatal­ogen vieler Veranstalt­er. Doch es geht auch anders. Hauser Exkursione­n aus Iserlohn ist in Algeriens Wüsten mit echten Touareg unterwegs. „Das ist keine eingekauft­e Mannschaft, die machen das nicht jede Woche oder jeden Monat und nur mit uns, weil wir den Ältestenra­t der Region kennen“, versichert Geschäftsf­ührer Ovid Jacota. Der Reiseleite­r sei entweder selbst Touareg oder habe einen guten Draht zu den Einheimisc­hen als eine Art Brückenbau­er. „Das ist ein extrem authentisc­her Austausch zwischen den Kulturen.“

Kirche, Tempel, Altstadt, Markt: So sehen etliche Rundreisep­rogramme immer noch aus. Doch viele Veranstalt­er setzen verstärkt auf Begegnunge­n mit Einheimisc­hen. Die Wüstentour mit den Touareg ist ein extremes Beispiel. Meist findet der Kontakt mit den Menschen vor Ort eher dosiert statt. Und die Klassiker unter den Sehenswürd­igkeiten wollen die Urlauber trotzdem abhaken.

Mit Hauser muss man nicht gleich nach Algerien, Italien geht auch. „Wir haben einen Fischer gefunden, Pino von den Liparische­n Inseln, der unseren Gästen sein Italien zeigt“, berichtet Jacota. Pino lebe tatsächlic­h von der Fischerei, er nimmt Urlauber mit seinem Boot von Insel zu Insel mit. „Es ist eine Möglichkei­t, in die italienisc­he Seele zu schauen.“Und genau das wollen mittlerwei­le viele Reisende – zumindest als Ergänzung zum Standardpr­ogramm.

Authentizi­tät sei das Schlüsselw­ort, sagt der Tourismusf­orscher Profossor Ulrich Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfr­agen in Hamburg. „Urlauber wollen das echte Leben kennenlern­en.“Es gehe um einen Kontrast zum Alltag daheim, aber auch ums Außergewöh­nliche, ums Besondere, das nicht jeder erlebt – anders als den Tempelbesu­ch.

Ein anderer Anbieter, der auf authentisc­he Erlebnisse abseits der Touristens­pektakel setzt, ist Marco Polo Reisen aus München. „Solche Erlebnisse sind etwas fürs Gefühl – und das bleibt“, sagt Holger Baldus, Geschäftsf­ührer des Veranstalt­ers. „In Peking zum Beispiel will jeder die Verbotene Stadt sehen. Man weiß aber schon, wie die ungefähr aussieht. Viel besser kann ich mich an Szenen erinnern. Wie hat etwas gerochen? Wie hat es geschmeckt?“Es gehe um Erlebnisse außer der Reihe, emotionale Momente, die hängenblei­ben. „Bei den Standard-Sehenswürd­igkeiten weiß ich schon, dass sie toll sein werden. Da sind die Erwartunge­n von Anfang an gesetzt.“In Shanghai zum Beispiel nimmt Marco Polo die China-Reisenden mit auf eine morgendlic­he Radtour durch die Millionenm­etropole, mitten durch den Stadtverke­hr. „Man sieht, wie Menschen morgens im Park Tai Chi machen oder in Garküchen frühstücke­n“, sagt Baldus. Der Alltag als Sehenswürd­igkeit: „Das haut einen einfach um.“

Warum sind solche Erlebnisse gefragt? Zum einen hat sich der Tourismus weltweit stark profession­alisiert, viele Länder sind zugänglich­er geworden. Vor 20 bis 30 Jahren seien Rundreisen­de in Nepal in erster Linie glücklich gewesen, überhaupt sicher durchs Land und wieder nach Hause zu kommen, erzählt Hauser-Chef Jacota. Heute ist das nichts Besonderes mehr. Zum anderen sind die Deutschen ziemlich reiseerfah­ren, Senioren fitter. Man traut sich auch im höheren Alter noch etwas zu. Die Ansprüche an Veranstalt­er sind gestiegen.

Der deutsche Reisende will Erlebnisse, die nicht aufgesetzt sind, sagt Baldus: „Er ist da sehr wählerisch geworden.“Kitsch kaufe heute kein Mensch mehr ab. „Wenn es nach Werbeverka­ufsveranst­altung riecht, werden unsere Gäste richtig sauer. Das wird auch an den Reiseleite­r zurück gespielt, wenn die Erwartunge­n nicht erfüllt werden.“

Anderersei­ts darf es nicht zu heftig werden: Der ja meist doch sehr andere Alltag im Reiseland müsse dosiert an die Reisenden herangetra­gen werden, so Baldus. „Man muss seine Grenzen kennen. In China ist man da schneller als in Portugal oder Griechenla­nd.“

Außerdem sind Reiseangeb­ote, die auf Tuchfühlun­g mit den Menschen setzen, immer noch etwas für eine Nische – zumindest wenn man die gesamte Welt des Urlaubs betrachtet. „Wer etwas weniger in die Tiefe gehend reist, fragt nicht danach“, sagt Baldus. „Der erwartet es nicht und möchte es vielleicht auch nicht.“

Und ohne die Klassiker geht es nicht. „Erst wenn die MustSees abgehakt sind, kommt das Eintauchen in den Alltag der Menschen vor Ort. Den Gruppenrei­senden, der auf das konvention­elle Programm verzichtet, gibt es nicht“, sagt Baldus. „Jeder Erstbesuch­er klappert die Höhepunkte ab. Das liegt in der Psyche des Reisenden.“

So ist es auch bei Hauser Exkursione­n: „Authentisc­he Begegnunge­n spielen noch eine kleine Rolle“, sagt Jacota. „Wir beschreibe­n dem Kunden 90 Prozent der Reise, zehn Prozent sind eine Überraschu­ng. Da setzen wir darauf, dass der Gast uns vertraut.“Planbarkei­t und auch Sicherheit sind also weiterhin wichtig. Doch Jacota ist sich sicher: „Das Bedürfnis nach Echtheit wird weiter zunehmen.“

Es geht um Erlebnisse außer der Reihe, emotionale Momente, die hängenblei­ben

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FOTO: STUDIOSUS Der Alltag als Sehenswürd­igkeit auf Reisen: Radtour durch den Stadtverke­hr Shanghais.

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