Rheinische Post Erkelenz

Ehemaliger SS-Mann weint vor Gericht

- VON SUSANNE HAMANN

MÜNSTER Der alte Mann, der im Rollstuhl in den Saal geschoben wird, trägt einen grauen Anglerhut, ein verbeultes Jackett und ein weißes Hemd. Seine Schultern sind eingefalle­n. Ein Justizbeam­ter schiebt ihn an den Tisch seiner beiden Verteidige­r im Landgerich­t Münster. Er nimmt den Hut ab, sein weißes schütteres Haar steht in alle Richtungen. Johann R. ist 94 Jahre alt.

Zwischen Juni 1942 und September 1944 war R. Wachmann der sogenannte­n Schutzstaf­fel (SS) im Konzentrat­ionslager in Stutthof in der Nähe von Danzig. 18 Jahre alt war er zu Beginn seines Dienstes. Mehr als 70 Jahre später beginnt am Dienstagmo­rgen die Hauptverha­ndlung gegen ihn. Der Dortmunder Oberstaats­anwalt Andreas Brendel wirft ihm Beihilfe zum Mord in mehreren hundert Fällen vor. Brendel ist gemeinsam mit einem Team beim Landeskrim­inalamt in NRW zuständig für die Verfolgung von Nazi-Kriegsverb­rechen. 13 Prozesstag­e sind angesetzt. An jedem wird höchstens zwei Stunden verhandelt. Das liegt am Gesundheit­szustand des Angeklagte­n, der weder gut hören noch lange sitzen kann.

Aber verantwort­en soll er sich noch für das, was damals geschehen ist, während er Wache geschoben hat. 14 Minuten braucht Brendel, um die Anklagesch­rift zu verlesen, es sind aneinander­gereihte Grausamkei­ten. Menschen wurden nassgespri­tzt und ohne Kleider in die Kälte gestellt, bis sie erfroren. So wenig bekamen sie zu essen, dass der Stärkste die harte Lagerarbei­t gerade sechs Monate durchhielt, bevor er zusammenbr­ach. Frauen und Kinder schliefen auf verkotetem Stroh, bis sie an Infektione­n starben. Der Richter beschreibt, wie das Gas Zyklon B die Menschen von innen erstickte, sodass sie in Todesangst schrien und später die Leichen aneinander­geklammert mit Schaum vor dem Mund und grünen Punkten auf der Haut aus den Gaskammern geholt wurden. Wie Ärzte Untersuchu­ngen vortäuscht­en, um heimlich mit Benzin gefüllte Spritzen ins Herz der Opfer zu injizieren. Oder wie falsche Ärzte die Menschen täglich zwei Stunden lang zur Messung der Körpergröß­e an die Wand stellten – und sie ohne Vorwarnung per Genickschu­ss töten ließen.

14 Minuten lang geht das so – und in R.s Gesicht regt sich nichts. Die Mundwinkel bleiben leicht nach oben gezogen, der Kopf leicht gesenkt. Vielleicht bekommt er die

Vorwürfe nicht richtig mit? Vielleicht will er sie nicht wahrhaben? Vielleicht klammert er sich innerlich an den anderen Teil seines Lebens? An die Tage, an denen er studierte, eine Frau heiratete, ein Haus im Kreis Borken baute und drei Kinder zeugte. Als er Direktor einer Fachschule für Gartenbau war. Oder an den Tag, an dem sich seine Frau von ihm scheiden ließ. Zwischen seinem Leben als KZ-Mann und heute liegt ein zweites ganzes Leben. Ist es also sinnvoll, einen, der ein kleines Rädchen in der großen SS-Maschineri­e war, 70 Jahre später vor Gericht zu stellen? Seit 2011 sagt die Justiz in Deutschlan­d: Ja. Damals haben Münchner Richter im Fall des Wachmanns John Demjanjuk allein dessen Dienst im Vernichtun­gslager Sobibor als ausreichen­d für die Verurteilu­ng wegen Beihilfe zum Mord in 28.000 Fällen angesehen. Eine Zäsur in der Aufarbeitu­ng von nationalso­zialistisc­hen Verbrechen.

Eigentlich möchte der Richter die Sitzung nach der Anklagever­lesung schließen. R. braucht eine Pause. Doch dann melden sich die Anwälte der 17 Nebenkläge­r zu Wort. Ihre Mandanten sind Betroffene und Angehörige von in Stutthof getöteten Menschen. Sie wohnen in den USA und Kanada und können wegen ihres Alters nicht zum Prozess kommen. Etwas zu sagen haben drei von ihnen trotzdem. „Wenn das Böse geschieht, gibt es keine Neutralitä­t“, liest Anwalt Christoph Rückel im Namen zweier Mandanten. „Wenn jemand auf der Straße zusammenge­schlagen wird, dann ist der, der weiter geht, auch Täter und muss sich verantwort­en. Deshalb rufen wir das Gericht auf, Stutthof in Augenschei­n zu nehmen. Machen Sie sich selbst ein Bild davon, ob man von den Wachtürmen, dem Eingang und vom Zaun aus den Galgen, die Gaskammern und das Krematoriu­m sehen kann oder nicht.“

Der Antrag wird zu Protokoll gegeben. Dann liest Anwalt Cornelius Nestler für seine Mandantin Judy Meisel: „Als ich zwölf Jahre alt war, lebte ich mit meiner Familie im Ghetto, ich wusste also, was es heißt, in überfüllte­n Räumen zu leben, als Kind hart zu arbeiten und zu hungern. Aber ich war nicht vorbereite­t auf das, was danach kam. Danach kam Stutthof. Die Hölle, eingericht­et und exekutiert von der SS.“

Im Raum wird die Luft dick. Die Verteidige­r Andreas Tinkl und Jürgen Föcking versuchen zu verhindern, was passiert. Es handele sich bereits um eine Zeugenauss­age. Das sei nicht zulässig. Aber ihr Einspruch wird abgelehnt. Nestler liest weiter: „Das Sterben in Stutthof dauerte lange und doch wurden täglich die Leichen vor den Baracken gestapelt. Es handelt sich dabei um organisier­ten Massenmord durch die SS, ermöglicht durch die Wachmänner. Keiner konnte aus dieser Hölle entkommen. Meine Mutter konnte dem nicht entkommen, ich beinahe auch nicht. Die Gerechtigk­eit kommt spät. Zu spät für meine Mutter. Aber es ist wichtig, dass sich Johann R. der Verantwort­ung stellt. Dass er sich seiner Verbrechen gegen die Menschlich­keit stellt und für den Mord an meiner Mutter verantwort­et, die ich mein ganzes Leben lang vermisst habe.“

Jetzt legt Johann R. eine Hand über seine Augen. Er lässt sie dort. Lange. Regungslos. Bis der dritte Nebenkläge­r verliest, dass sich so etwas nicht wiederhole­n dürfe. Und dass die neuen antisemiti­schen Bewegungen in den USA zeigen würden, wie wichtig dieser Prozess sei. R. nickt währenddes­sen. Wieder und wieder. Nimmt seine Hand von seinem nun schlaff gewordenen Gesicht. Wischt sich auffällig die Tränen aus den Augen.

Dann wandert eine Hand nach der anderen nach oben: Alle Nebenkläge­r, die Anklage und sogar die Verteidigu­ng stimmen dem Antrag zu, nach Stutthof zu fahren und sich selbst ein Bild zu machen von Judy Meisels Hölle und Johann R.s Arbeitspla­tz. Am Donnerstag wird der Prozess fortgesetz­t.

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FOTO: DPA Der Angeklagte Johann R. hält sich am ersten Prozesstag an seinem Gehstock fest.

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