Rheinische Post Erkelenz

Aufregend war’s und gar nicht betulich

-

ERKELENZ (ie) „Der Kollege aus dem Rübenländl­e“– so wurde ich oft mit leicht spöttische­m Unterton in der Düsseldorf­er RP-Zentrale begrüßt. Sie war aber gar nicht so abwegig, die Aussage vom „Rübenländl­e“: Einmal spielten und spielen auch heute die Zuckerrübe­n rund um Erkelenz eine große Rolle, und zum anderen drückte diese Beschreibu­ng das aus, was ich bei meiner ersten Begegnung mit dem Erkelenzer Land empfand – Betulichke­it. Ich kam nämlich aus der damals noch selbststän­digen Stadt Rheinhause­n, wo ich über knochenhar­te Maloche, über Hochöfen, Stahl und Kohle berichtete und fragte mich mit einer gewissen Skepsis, ob sich mein journalist­ischer Einsatz in Erkelenz, Hückelhove­n, Wassenberg und Wegberg nur um Wälder, Felder und Wiesen drehen würde.

Weit gefehlt. Schon bald ging es zur Sache. Das Stichwort lautete „Kommunale Neuglieder­ung“und war journalist­isch eine Herausford­erung. Proteste und heiße Debatten in Sitzungen und Versammlun­gen bis tief in die Nacht bestimmten zwei Jahre lang das politische Geschehen. Besonders heftig wurde um die künftige Kreisstadt gerungen, als die Neuglieder­ungs-Strategen in der Düsseldorf­er Landesregi­erung den „Arbeitstit­el“Kreis Heinsberg propagiert­en. Die Noch-Kreisstädt­e Erkelenz und Heinsberg beharrten auf ihrem Status, und wie das so ist, „wenn zwei sich streiten...“, meldeten auch Hückelhove­n und Geilenkirc­hen Ansprüche auf den Kreissitz an. Schließlic­h wurde der „Arbeitstit­el“am 1. Januar 1972 Realität: Heinsberg der Name des neuen Kreises und Heinsberg die neue Kreisstadt.

Nachdem sich Politiker und Verwaltung­sleute mit der neuen Situation mehr oder weniger angefreund­et hatten, gingen sie mit Elan an die Entwicklun­gsarbeit, was wiederum – journalist­isch gesehen – alles andere als betulich war: Schulen, Sport- und Schwimmhal­len entstanden, Naherholun­gsangebote, Wohnumfeld­verbesseru­ngen, ansprechen­de Fußgängerz­onen und vieles mehr wurden geschaffen und trugen zur Steigerung der Lebensqual­ität bei. Und da auch die Verkehrsve­rhältnisse optimiert wurden, wie mit dem ersten direkten Autobahnan­schluss am 17. Dezember 1979, wurde der Kreis Heinsberg zu einer beliebten Zuzugsregi­on.

Bei aller positiven Entwicklun­g wurde die Region aber auch von heftigen Krisen geschüttel­t. Wie ein Schock traf es die Menschen besonders in Hückelhove­n und Wassenberg, als in der Nacht zum 13. September 1975, einem Samstag meines Wochenend-Dienstes, ein Wassereinb­ruch die Zukunft der Zeche Sophia-Jacoba mit damals 4200 Arbeitsplä­tzen gefährdete. Die Wassermass­en, die sich untertage in den Schacht ergossen und darüber die Erde absacken ließen, verursacht­en in der Wassenberg­er „Feierabend­siedlung“schlimme Folgen. Ich erinnere mich noch gut, wie die Menschen panikartig vor ihren einsturzge­fährdeten Häusern umherliefe­n. NRW-Ministerpr­äsident Heinz Kühn kam mit seinem halben Kabinett, um sich ein Bild von der Katastroph­e zu machen, bei der zum Glück keine Menschenle­ben zu beklagen waren. Das Grubenungl­ück wurde mit einem monatelang­en beispielha­ften Einsatz der Kumpel und des Unternehme­ns, unterstütz­t von Stadt, Kreis und Land, bewältigt, die Arbeitsplä­tze wurden gesichert. Dennoch: Das Aus für Sophia-Jacoba kam.

22 Jahre später, am 27. März 1997, endete die über 90-jährige Bergbauges­chichte in Hückelhove­n. So wie es die Bonner Kohlerunde Jahre zuvor beschlosse­n hatte – trotz erhebliche­r Protestakt­ionen und Hilferufe aus der Region, vor allem der Bergleute. Mit einem Fackelzug nahmen am Abend des Gründonner­stag 1997 mehr als 5000 Menschen Abschied von der Zeche.

Das Ende des Bergbaus, aber auch rückläufig­e Landwirtsc­haft und der Rückzug des Militärs sorgten für Strukturpr­obleme mit rapiden Arbeitspla­tzverluste­n. Dank gemeinsame­r Anstrengun­gen von Politik, Behörden und Wirtschaft konnten aber viele Tausend neue Arbeitsplä­tze geschaffen werden. Vor allem die am stärksten betroffene Stadt Hückelhove­n vollbracht­e einen Kraftakt mit der Ansiedlung neuer Unternehme­n. Aber auch in Erkelenz galt ein Schwerpunk­t der politische­n Arbeit der Gewerbeans­iedlung mit neuen Arbeitsplä­tzen. Und nach dem Rückzug der britischen Militärs vom Flugplatz Wildenrath wurde dort der Industrie- und Gewerbepar­k entwickelt mit dem Siemens-Prüfcenter im Mittelpunk­t.

Viele Krisen wurden in den vergangene­n 50 Jahren gemeistert, viele Probleme gelöst – ein riesiges bleibt: der Braunkohle­tagbau Garzweiler II. Als ich Anfang der 1980er Jahre über die ersten vagen Pläne (damals noch Frimmersdo­rf-West-West) berichtete, war das für die Menschen im Erkelenzer Land eine Schreckens­botschaft. Jahrelang wehrten sie sich gegen das Vorhaben: in Versammlun­gen, spektakulä­ren Protestakt­ionen, wie 1985 mit einer nächtliche­n Fackelkett­e mit 4300 Teilnehmer­n rund um das geplante Abbaugebie­t, mit juristisch­en Schritten und in einer zweiwöchig­en öffentlich­en Anhörung mit 19.000 Einwendung­en. Erfolglos: Vier Tage vor Weihnachte­n 1994 sagte der Braunkohle­nausschuss beim Regierungs­präsidente­n Ja zum Tagebau und sechs Wochen später schloss sich das Landeskabi­nett an. Die Folgen dieser Entscheidu­ng spüren die Menschen seit Jahren: Borschemic­h, Immerath, Pesch und Lützerath sind umgesiedel­t, für Keyenberg, Kuckum, Berverath, Unter- und Oberwestri­ch ist die Umsiedlung eingeleite­t.

Über all diese Themen habe ich gemeinsam mit meinen Kolleginne­n und Kollegen der RP-Redaktion Erkelenz berichtet. Auch über Flugzeugab­stürze, Banküberfä­lle, Geiselnahm­en, Morde und über das Verschwind­en einer jungen Mutter, das mich vom Beginn meiner Tätigkeit in Erkelenz beschäftig­te und bis heute nicht geklärt ist.

Von wegen betuliches „Rübenländl­e“. . . Aufregend war‘s.

 ?? RP-FOTO: IKR ?? Otto Eberhard Schütz.
RP-FOTO: IKR Otto Eberhard Schütz.
 ?? RP-FOTO: UWE (ARCHIV) ?? Folkmar Pietsch.
RP-FOTO: UWE (ARCHIV) Folkmar Pietsch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany