Die Asche der Vergangenheit
Judith Schalanskys Erzählungen werden zu einem wundersamen „Verzeichnis einiger Verluste“.
Armand Schulthess war ein Sonderling. Mit 50 kündigte er seine Arbeit in Bern und zog sich in die Einsamkeit eines verlassenen Dorfes im Tessin zurück. In seinem Kastanienhain installierte er eine Enzyklopädie des Wissens, in seinem Haus errichtet er eine riesige Bibliothek aller Druckerzeugnisse, die ihm in die Hände fielen, und stellte manch selbst verfertigtes Buch dazu. Nach seinem Tode ließen die Erben das Haus räumen und übergaben fast sämtliche Papiere und Bücher den Flammen und der Müllabfuhr. Nur wenige Schätze konnten gerettet werden, fast nichts erinnert mehr an diesen Kauz, der sein Leben der Literatur widmete und mit seiner Kunst fast vollkommen verschmolz.
Doch das Vergangene ist nie ganz verloren, immer erhalten sich Gerüchte und Legenden, lebt der Schmerz des Verlustes als Sehnsucht und uneingelöstes Versprechen in den Mythen und Märchen weiter. Ein Mann wie Armand Schulthess erregt die literarische Fantasie der 1980 in Greifswald geborenen Autorin Judith Schalansky, die mit ihren Büchern immer auf der Schnittstelle zwischen Literatur und Wissenschaft jongliert, Fakten und Fiktionen mischt und die Utopie des besseren Anderen real werden lässt. Ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“und ihr Roman „Der Hals der Giraffe“wurden vielfach übersetzt und ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der „Naturkunden“und lebt als Buchgestalterin und Schriftstellerin in Berlin. In ihrem neuen Buch legt sie ein „Verzeichnis einiger Verluste“an und umkreist in mehreren Erzählungen, was das Verlorene hinterlässt, warum es wichtig ist, in der Asche der Vergangenheit zu stochern und das Feuer der Erinnerung neu zu entfachen.
Auf der Suche nach einem verbrannten Bild von Caspar David Friedrich stapft sie durch die norddeutsche Tiefebene. Die verlorenen Lieder und Gesänge der legendären Sappho heraufbeschwörend reist sie nach Lesbos. Im alten Babylon trifft sie Mani wieder, den verfemten Religionsstifter, dessen Bücher vernichtet und dessen Gemeinde verfolgt wurde. In Rom stolpert sie über die Ruinen einer Villa, deren einst mächtige Besitzer vergessen sind. Sie sitzt im römischen Zirkus und wird Augenzeuge, wie der heute längst ausgestorbene Kaspische Tiger unter dem Geschrei der blutdurstigen Menschenmenge gegen einen Löwen kämpfen muss. Das Echo eines verschollenen Stummfilms von Friedrich Wilhelm Murnau lotst sie nach Manhattan, wo ihr auf der Straße eine müde Greta Garbo entgegenkommt. Im Pazifik lauscht sie dem Rauschen des Meeres und den Erzählungen, in denen die Kultur der Menschen weiterlebt, die bei einem Seebeben mit ihrem Atoll untergingen.
In ihrem „Verzeichnis einiger Verluste“beschreibt Judith Schalansky die Geschichte der Welt als ein immerwährendes Werden und Vergehen. Kein Leben und keine Kunst, kein Imperium und kein Bauwerk ist vor Zerstörung und Zersetzung gefeit. Der Tod ist allgegenwärtig, die Totenklage die Quelle jeder Kultur. Das Verlorene und Vermisste hinterlässt im Gedächtnis der Menschen den Wunsch, Vergangenes wiederaufleben zu lassen, um der Gegenwart und Zukunft einen Sinn zu geben.
Einmal reist Schalansky zurück in ihre Kindheit in der DDR und schaut auf das Leben von Menschen, die heute von Phantom-Schmerzen heimgesucht werden, wenn sie an den abgerissenen Palast der Republik denken. Dort wo im Arbeiterund Bauern-Paradies das Volk mit Brot und Spielen bei Laune gehalten wurde, wird jetzt das alte Berliner Stadtschloss wieder hochgezogen. Auch das ist so eine schmerzende Wunde der deutschen Geschichte. Ob man sie aber wirklich heilen und den Weg der Deutschen in den mörderischen Abgrund der Geschichte begreifen kann, wenn man hinter der Potemkinschen Fassade im Geiste der Gebrüder Humboldt die Kulturen der Welt erforscht und ausstellt?
J. Schalansky Verzeichnis einiger Verluste Suhrkamp, 252 S., 24 Euro