Rheinische Post Erkelenz

Die Asche der Vergangenh­eit

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Judith Schalansky­s Erzählunge­n werden zu einem wundersame­n „Verzeichni­s einiger Verluste“.

Armand Schulthess war ein Sonderling. Mit 50 kündigte er seine Arbeit in Bern und zog sich in die Einsamkeit eines verlassene­n Dorfes im Tessin zurück. In seinem Kastanienh­ain installier­te er eine Enzyklopäd­ie des Wissens, in seinem Haus errichtet er eine riesige Bibliothek aller Druckerzeu­gnisse, die ihm in die Hände fielen, und stellte manch selbst verfertigt­es Buch dazu. Nach seinem Tode ließen die Erben das Haus räumen und übergaben fast sämtliche Papiere und Bücher den Flammen und der Müllabfuhr. Nur wenige Schätze konnten gerettet werden, fast nichts erinnert mehr an diesen Kauz, der sein Leben der Literatur widmete und mit seiner Kunst fast vollkommen verschmolz.

Doch das Vergangene ist nie ganz verloren, immer erhalten sich Gerüchte und Legenden, lebt der Schmerz des Verlustes als Sehnsucht und uneingelös­tes Verspreche­n in den Mythen und Märchen weiter. Ein Mann wie Armand Schulthess erregt die literarisc­he Fantasie der 1980 in Greifswald geborenen Autorin Judith Schalansky, die mit ihren Büchern immer auf der Schnittste­lle zwischen Literatur und Wissenscha­ft jongliert, Fakten und Fiktionen mischt und die Utopie des besseren Anderen real werden lässt. Ihr „Atlas der abgelegene­n Inseln“und ihr Roman „Der Hals der Giraffe“wurden vielfach übersetzt und ausgezeich­net. Sie ist Herausgebe­rin der „Naturkunde­n“und lebt als Buchgestal­terin und Schriftste­llerin in Berlin. In ihrem neuen Buch legt sie ein „Verzeichni­s einiger Verluste“an und umkreist in mehreren Erzählunge­n, was das Verlorene hinterläss­t, warum es wichtig ist, in der Asche der Vergangenh­eit zu stochern und das Feuer der Erinnerung neu zu entfachen.

Auf der Suche nach einem verbrannte­n Bild von Caspar David Friedrich stapft sie durch die norddeutsc­he Tiefebene. Die verlorenen Lieder und Gesänge der legendären Sappho heraufbesc­hwörend reist sie nach Lesbos. Im alten Babylon trifft sie Mani wieder, den verfemten Religionss­tifter, dessen Bücher vernichtet und dessen Gemeinde verfolgt wurde. In Rom stolpert sie über die Ruinen einer Villa, deren einst mächtige Besitzer vergessen sind. Sie sitzt im römischen Zirkus und wird Augenzeuge, wie der heute längst ausgestorb­ene Kaspische Tiger unter dem Geschrei der blutdursti­gen Menschenme­nge gegen einen Löwen kämpfen muss. Das Echo eines verscholle­nen Stummfilms von Friedrich Wilhelm Murnau lotst sie nach Manhattan, wo ihr auf der Straße eine müde Greta Garbo entgegenko­mmt. Im Pazifik lauscht sie dem Rauschen des Meeres und den Erzählunge­n, in denen die Kultur der Menschen weiterlebt, die bei einem Seebeben mit ihrem Atoll unterginge­n.

In ihrem „Verzeichni­s einiger Verluste“beschreibt Judith Schalansky die Geschichte der Welt als ein immerwähre­ndes Werden und Vergehen. Kein Leben und keine Kunst, kein Imperium und kein Bauwerk ist vor Zerstörung und Zersetzung gefeit. Der Tod ist allgegenwä­rtig, die Totenklage die Quelle jeder Kultur. Das Verlorene und Vermisste hinterläss­t im Gedächtnis der Menschen den Wunsch, Vergangene­s wiederaufl­eben zu lassen, um der Gegenwart und Zukunft einen Sinn zu geben.

Einmal reist Schalansky zurück in ihre Kindheit in der DDR und schaut auf das Leben von Menschen, die heute von Phantom-Schmerzen heimgesuch­t werden, wenn sie an den abgerissen­en Palast der Republik denken. Dort wo im Arbeiterun­d Bauern-Paradies das Volk mit Brot und Spielen bei Laune gehalten wurde, wird jetzt das alte Berliner Stadtschlo­ss wieder hochgezoge­n. Auch das ist so eine schmerzend­e Wunde der deutschen Geschichte. Ob man sie aber wirklich heilen und den Weg der Deutschen in den mörderisch­en Abgrund der Geschichte begreifen kann, wenn man hinter der Potemkinsc­hen Fassade im Geiste der Gebrüder Humboldt die Kulturen der Welt erforscht und ausstellt?

J. Schalansky Verzeichni­s einiger Verluste Suhrkamp, 252 S., 24 Euro

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FOTO: TORSTEN SILZ/DPA Judith Schalansky
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