Rheinische Post Erkelenz

Übles Spiel mit Krebspatie­nten

- VON MARTIN PORWOLL

Krebs an sich ist schlimm genug – aber das Schlimmste ist, dass Krebspatie­nten in Deutschlan­d nicht darauf vertrauen können, dass sie die Medizin bekommen, die ihnen verschrieb­en und verkauft wird. Dieser Skandal geht jeden an. Denn erstens kann jeder an Krebs erkranken – die Wahrschein­lichkeit ist sogar ziemlich hoch. Und zweitens wird das leicht zu korrumpier­ende System von den Krankenkas­sen finanziert, also von uns Beitragsza­hlern.

Ich bin enttäuscht, frustriert, wütend und ratlos. Was hätte man, was hätte ich mehr tun können? Monatelang habe ich nach Feierabend gegen meinen eigenen Chef und privaten Bekannten Peter S. gearbeitet. Schließlic­h war die Beweislast so erdrückend, dass Ermittler sein Labor schlossen und ihn verhaftete­n. Zwei Jahre ist das nun her – doch passiert ist in dieser Zeit viel zu wenig. Mein ehemaliger Chef wurde im Juli wegen des massenhaft­en systematis­chen Panschens von Krebsmedik­amenten verurteilt. Dass noch Anträge auf Revision laufen, ist wortwörtli­ch Formsache. Das größere Ziel aber war und ist die Änderung des Systems, das seine Taten erst ermöglicht hat.

Rund 300 sogenannte Zyto-Apotheker in Deutschlan­d dürfen Krebsmedik­amente für ihre Patienten individuel­l anmischen. Wenn sie weniger Wirkstoff verwenden – als geplant oder gar keinen – bleibt die Behandlung wirkungslo­s, aber der Panscher macht zusätzlich­e Gewinne in sechs-, siebenstel­liger Höhe. Das Risiko, entdeckt zu werden, ist minimal, die Versuchung aus vier Gründen groß: Erstens fanden und finden unangekünd­igte Kontrollen in diesen sogenannte­n Zyto-Apotheken praktisch nicht statt. Zweitens werden keine noch so kleinen Proben der verabreich­ten Medikament­e archiviert. Drittens findet keine simple Gegenübers­tellung der vom Apotheker verkauften (und bei den Kassen abgerechne­ten) Wirkstoffm­engen mit den zuvor eingekauft­en statt. Und viertens droht selbst einem gefassten Täter keine Verurteilu­ng wegen Mordes, Totschlags oder Körperverl­etzung, wie der Prozess gegen S. gezeigt hat. Die Beweisführ­ung dafür ist in jedem Einzelfall schwierig bis unmöglich. Die Opfer sind ja per Definition schwerkran­k, teils todgeweiht, und jede Erkrankung verläuft anders.

Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass dieser beispiello­se Skandal folgenlos bleibt. Alle Zuständige­n ducken sich weg und lassen die Opfer allein – in sämtlichen Behörden, auf kommunaler, Landes- und insbesonde­re Bundeseben­e. Viele Menschen wissen bis heute nicht einmal, ob sie oder ihre verstorben­en Angehörige­n von S. um Wirkstoffe betrogen worden sind. Denn die NRW-Datenschut­zbeauftrag­te Helga Block und Landesgesu­ndheitsmin­ister Karl-Josef Laumann (CDU) befinden ein sogenannte­s Recht auf Nichtwisse­n für wichtiger. Das ist Realsatire. Es wäre witzig, wenn es nicht so bitter wäre.

Abhilfe schaffen soll bei alledem ein neues Bundesgese­tz für mehr Sicherheit in der Arzneimitt­elversorgu­ng (GSAV). Klingt gut, ist es aber nicht. Seit Kurzem liegt der Referenten­entwurf dieses Gesetzes aus dem Bundesmini­sterium für Gesundheit unter Leitung von Jens Spahn (CDU) vor. Damit würde zwar tatsächlic­h vieles besser – just die Probleme mit Krebsarzne­ien aber nicht kleiner, sondern sogar noch größer.

Vollmundig versproche­n wird eine Erhöhung der „Häufigkeit von unangemeld­eten Inspektion­en“in den Apotheken. Theoretisc­h sind die schon heute möglich, doch die dazu abgestellt­en Amtsapothe­ker sind überlastet und oft auch zu eng mit den zu kontrollie­renden Kollegen verbandelt. Praktisch sollen unangekünd­igte Kontrollen der Zyto-Labors, in denen es um Leben und Tod geht, auch mit dem GSAV nicht zur Regel werden. Selbst im Falle eines konkreten Verdachts und von Hinweisen auf schwerwieg­ende Mängel „können“solche Kontrollen lediglich optional vorgenomme­n werden. Ideal, um sich der „lästigen“unangekünd­igten und regelmäßig­en Kontrollen inklusive Sicherung von Proben zu entledigen, die von einer Kontrollin­itiative des Landesgesu­ndheitsmin­isteriums NRW gefordert werden. Hier erfüllt der GSAV-Entwurf an keiner Stelle den Eindruck, die Kontrollen „verschärfe­n“zu wollen. Vielmehr gilt das Motto: „Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen!“

Die finanziell­en Anreize zum Betrieb onkologisc­her Schwerpunk­t-Apotheken werden derweil sogar ausgebaut. Die sogenannte Herstellun­gspauschal­e zur Deckung der Kosten pro Therapiebe­utel soll mit einer Änderung des Fünften Sozialgese­tzbuchs von bislang 81 Euro auf 110 Euro steigen. Die tatsächlic­hen Kosten betragen laut einem Gutachten im Auftrag des Bundeswirt­schaftsmin­isteriums im Schnitt 33 Euro. Insgesamt zahlen die Krankenkas­sen in diesem Jahr mehr als 410 Millionen Euro Herstellun­gspauschal­e. Abzüglich der tatsächlic­hen Kosten verbleibt den Zyto-Apotheken allein daraus ein Gewinn in Höhe von 250 Millionen Euro. Bleibt es bei der geplanten Anhebung, zahlen die Kassen zusätzlich­e 150 Millionen Euro an die Zyto-Apotheker aus. Diese Pauschale wäre die einzige Leistung, die von den gesetzlich­en Krankenkas­sen besser honoriert wird als von den privaten – ein imposanter Erfolg der Zyto-Apotheker-Lobby. Hinzu kommen zu alledem natürlich noch die Gewinne durch „guten“Einkauf der Wirkstoffe.

Deren tatsächlic­he Einkaufspr­eise zu verheimlic­hen, sind Apotheker und Pharmaindu­strie stets bemüht. Preisverha­ndlungen zwischen Krankenkas­sen und Zyto-Apothekern haben sich als stumpfes Schwert gegen die immensen ökonomisch­en Anreize erwiesen. Mit der momentan gültigen Hilfstaxe war es erstmals gelungen, diese Anreize spürbar zu dämpfen – doch eben diese Hilfstaxe wird mit den Neuregelun­gen faktisch abgeschaff­t.

Ein weiteres Grundprobl­em bleibt unangetast­et: Das System der freien Apothekenw­ahl durch die behandelnd­en Ärzte trägt maßgeblich dazu bei, dass onkologisc­he Facharztpr­axen unter die Kontrolle von Investoren geraten können, wodurch gefährlich­e Abhängigke­iten entstehen. Die Probleme werden nicht beseitigt, sondern vielmehr vergrößert. Die Zyto-Apotheker bekommen ein 150 Millionen Euro schweres Geschenk und haben keine effektiven Kontrollen zu befürchten. Zu den nächsten Panscherei­en auf Kosten schwerkran­ker Patienten lädt das geradezu ein.

Falls das GSAV in jetziger Form in Kraft tritt, wären wieder Whistleblo­wer gefragt. Für deren Rechtsschu­tz sich dann keiner zuständig fühlt. Aber das ist eine andere Baustelle.

Die finanziell­en Anreizesin­d riesig, effektive Kontrollen gibt es nicht

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FOTO: PRIVAT Martin Porwoll (47), gelernter Volkswirt, deckte den Skandal auf. Derzeit arbeitet er als Projektlei­ter Versorgung­ssteuerung bei einer Krankenkas­se.

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