Übles Spiel mit Krebspatienten
Krebs an sich ist schlimm genug – aber das Schlimmste ist, dass Krebspatienten in Deutschland nicht darauf vertrauen können, dass sie die Medizin bekommen, die ihnen verschrieben und verkauft wird. Dieser Skandal geht jeden an. Denn erstens kann jeder an Krebs erkranken – die Wahrscheinlichkeit ist sogar ziemlich hoch. Und zweitens wird das leicht zu korrumpierende System von den Krankenkassen finanziert, also von uns Beitragszahlern.
Ich bin enttäuscht, frustriert, wütend und ratlos. Was hätte man, was hätte ich mehr tun können? Monatelang habe ich nach Feierabend gegen meinen eigenen Chef und privaten Bekannten Peter S. gearbeitet. Schließlich war die Beweislast so erdrückend, dass Ermittler sein Labor schlossen und ihn verhafteten. Zwei Jahre ist das nun her – doch passiert ist in dieser Zeit viel zu wenig. Mein ehemaliger Chef wurde im Juli wegen des massenhaften systematischen Panschens von Krebsmedikamenten verurteilt. Dass noch Anträge auf Revision laufen, ist wortwörtlich Formsache. Das größere Ziel aber war und ist die Änderung des Systems, das seine Taten erst ermöglicht hat.
Rund 300 sogenannte Zyto-Apotheker in Deutschland dürfen Krebsmedikamente für ihre Patienten individuell anmischen. Wenn sie weniger Wirkstoff verwenden – als geplant oder gar keinen – bleibt die Behandlung wirkungslos, aber der Panscher macht zusätzliche Gewinne in sechs-, siebenstelliger Höhe. Das Risiko, entdeckt zu werden, ist minimal, die Versuchung aus vier Gründen groß: Erstens fanden und finden unangekündigte Kontrollen in diesen sogenannten Zyto-Apotheken praktisch nicht statt. Zweitens werden keine noch so kleinen Proben der verabreichten Medikamente archiviert. Drittens findet keine simple Gegenüberstellung der vom Apotheker verkauften (und bei den Kassen abgerechneten) Wirkstoffmengen mit den zuvor eingekauften statt. Und viertens droht selbst einem gefassten Täter keine Verurteilung wegen Mordes, Totschlags oder Körperverletzung, wie der Prozess gegen S. gezeigt hat. Die Beweisführung dafür ist in jedem Einzelfall schwierig bis unmöglich. Die Opfer sind ja per Definition schwerkrank, teils todgeweiht, und jede Erkrankung verläuft anders.
Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass dieser beispiellose Skandal folgenlos bleibt. Alle Zuständigen ducken sich weg und lassen die Opfer allein – in sämtlichen Behörden, auf kommunaler, Landes- und insbesondere Bundesebene. Viele Menschen wissen bis heute nicht einmal, ob sie oder ihre verstorbenen Angehörigen von S. um Wirkstoffe betrogen worden sind. Denn die NRW-Datenschutzbeauftragte Helga Block und Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) befinden ein sogenanntes Recht auf Nichtwissen für wichtiger. Das ist Realsatire. Es wäre witzig, wenn es nicht so bitter wäre.
Abhilfe schaffen soll bei alledem ein neues Bundesgesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV). Klingt gut, ist es aber nicht. Seit Kurzem liegt der Referentenentwurf dieses Gesetzes aus dem Bundesministerium für Gesundheit unter Leitung von Jens Spahn (CDU) vor. Damit würde zwar tatsächlich vieles besser – just die Probleme mit Krebsarzneien aber nicht kleiner, sondern sogar noch größer.
Vollmundig versprochen wird eine Erhöhung der „Häufigkeit von unangemeldeten Inspektionen“in den Apotheken. Theoretisch sind die schon heute möglich, doch die dazu abgestellten Amtsapotheker sind überlastet und oft auch zu eng mit den zu kontrollierenden Kollegen verbandelt. Praktisch sollen unangekündigte Kontrollen der Zyto-Labors, in denen es um Leben und Tod geht, auch mit dem GSAV nicht zur Regel werden. Selbst im Falle eines konkreten Verdachts und von Hinweisen auf schwerwiegende Mängel „können“solche Kontrollen lediglich optional vorgenommen werden. Ideal, um sich der „lästigen“unangekündigten und regelmäßigen Kontrollen inklusive Sicherung von Proben zu entledigen, die von einer Kontrollinitiative des Landesgesundheitsministeriums NRW gefordert werden. Hier erfüllt der GSAV-Entwurf an keiner Stelle den Eindruck, die Kontrollen „verschärfen“zu wollen. Vielmehr gilt das Motto: „Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen!“
Die finanziellen Anreize zum Betrieb onkologischer Schwerpunkt-Apotheken werden derweil sogar ausgebaut. Die sogenannte Herstellungspauschale zur Deckung der Kosten pro Therapiebeutel soll mit einer Änderung des Fünften Sozialgesetzbuchs von bislang 81 Euro auf 110 Euro steigen. Die tatsächlichen Kosten betragen laut einem Gutachten im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums im Schnitt 33 Euro. Insgesamt zahlen die Krankenkassen in diesem Jahr mehr als 410 Millionen Euro Herstellungspauschale. Abzüglich der tatsächlichen Kosten verbleibt den Zyto-Apotheken allein daraus ein Gewinn in Höhe von 250 Millionen Euro. Bleibt es bei der geplanten Anhebung, zahlen die Kassen zusätzliche 150 Millionen Euro an die Zyto-Apotheker aus. Diese Pauschale wäre die einzige Leistung, die von den gesetzlichen Krankenkassen besser honoriert wird als von den privaten – ein imposanter Erfolg der Zyto-Apotheker-Lobby. Hinzu kommen zu alledem natürlich noch die Gewinne durch „guten“Einkauf der Wirkstoffe.
Deren tatsächliche Einkaufspreise zu verheimlichen, sind Apotheker und Pharmaindustrie stets bemüht. Preisverhandlungen zwischen Krankenkassen und Zyto-Apothekern haben sich als stumpfes Schwert gegen die immensen ökonomischen Anreize erwiesen. Mit der momentan gültigen Hilfstaxe war es erstmals gelungen, diese Anreize spürbar zu dämpfen – doch eben diese Hilfstaxe wird mit den Neuregelungen faktisch abgeschafft.
Ein weiteres Grundproblem bleibt unangetastet: Das System der freien Apothekenwahl durch die behandelnden Ärzte trägt maßgeblich dazu bei, dass onkologische Facharztpraxen unter die Kontrolle von Investoren geraten können, wodurch gefährliche Abhängigkeiten entstehen. Die Probleme werden nicht beseitigt, sondern vielmehr vergrößert. Die Zyto-Apotheker bekommen ein 150 Millionen Euro schweres Geschenk und haben keine effektiven Kontrollen zu befürchten. Zu den nächsten Panschereien auf Kosten schwerkranker Patienten lädt das geradezu ein.
Falls das GSAV in jetziger Form in Kraft tritt, wären wieder Whistleblower gefragt. Für deren Rechtsschutz sich dann keiner zuständig fühlt. Aber das ist eine andere Baustelle.
Die finanziellen Anreizesind riesig, effektive Kontrollen gibt es nicht