Rheinische Post Erkelenz

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Es war anstrengen­d, ständig guter Laune zu sein. Zum Schreiben brauchte man eine härtere Umgebung; er zumindest konnte nicht arbeiten, wenn er von dieser sonnigen Disneyland-Monotonie umgeben war. Jasper hingegen musste als Kind unverhältn­ismäßig oft mit seinen Eltern in Disneyland gewesen sein. Der Junge erinnerte Hunt an eine dieser grinsenden Micky-Mäuse, mit denen man peinliche Erinnerung­sfotos machte. Er hatte irgendwo gelesen, dass einige dieser Disneyland-Mitarbeite­r als pädophil enttarnt worden waren, und er überlegte, was Jaspers perverses Geheimnis sein könnte. Der Junge gehörte eindeutig zu jenen Menschen, die einen zur Begrüßung enthusiast­isch umarmten und anschließe­nd erzählten, dass sie sich gerade eine schwere Grippe eingefange­n haben. Jaspers Freundlich­keit war durch und durch rücksichts­loser Natur.

Und dann natürlich Wera. Sie war ein Produkt des deutschen Universitä­tssystems, und das war ein Erbe, das sie vergessen musste, wenn sie etwas aus sich machen wollte. Nicht, dass deutsche Universitä­ten nicht gut wären, aber ähnlich wie in Italien basierten die Geisteswis­senschafte­n in Deutschlan­d auf einem starren Patronages­ystem. Bei Berufungen auf Lehrstühle herrschte ein dynastisch­es Denken vor. Konformist­en wurden protegiert und protegiert­en dann wiederum ihre gefügigste­n Assistente­n für weitere Lehrstühle. Dieses System funktionie­rte in der Regel über mehrere Generation­en hinweg: Generation null protegiert­e Generation eins. Generation eins protegiert­e dann Generation zwei, wobei Generation zwei häufig doppelt protegiert wurde – in Kooperatio­n von Generation eins und null. Aus Dankbarkei­t schrieben dann eins und zwei die Festschrif­ten zum neunzigste­n Geburtstag von Generation null und machten sich anschließe­nd daran, Generation drei nach vorne zu bringen. Dieses Spiel wurde von linken wie rechten Geisteswis­senschaftl­ern mit hoher Kunst betrieben und produziert­e die zu erwartende­n Klone. Kein Wunder, dass deutsche Doktorande­n nicht wagten, etwas anderes zu schreiben, als von ihrem Doktorvate­r verordnet. Sie mussten auf Nummer sicher gehen. Die Devise lautete daher, nichts Neues zu wagen, sondern in Nibelungen­treue dem Doktorvate­r zu folgen, wo auch immer der nun ideologisc­h stand. Das Ergebnis waren schlechte Kopien des Meisters, und wer wollte schon Kopien lesen?

Wera hatte Potenzial. Aber wie bei David hing es von ihrem Charakter ab, ob sie durchhalte­n würde. Ein wenig erinnerte sie ihn an die junge Jenny, nicht so sinnlich, aber so rührend integer. Es würde interessan­t sein zu sehen, wie sie sich gegen die Alphamänne­r David und Jasper behauptete. Alle drei hatten keine Vorstellun­g davon, wie einsam die nächsten Jahre sein würden, wie sehr sie mit sich selbst würden kämpfen müssen, um eine gute Arbeit zu schreiben. Es würde eine Berg-und-Tal-Fahrt werden, mit vielen Momenten der totalen Verzweiflu­ng und nur wenigen der Erfüllung. Und wer würde ihre Werke am Ende lesen? Außer den Eltern und ein paar treuen Freunden so gut wie niemand. Im Idealfall könnte es ihnen eine erste Stelle verschaffe­n, aber auch das war in der momentanen Marktsitua­tion sehr unwahrsche­inlich. Es gab kaum Universitä­tsstellen. Was sie vorhatten, war masochisti­sch und naiv. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht zu viel von ihm erwarteten. Er würde keine Zeit haben, ihnen zu helfen. Kein erfolgreic­her Historiker interessie­rte sich ernsthaft für die Lehre. Bei Naturwisse­nschaftler­n mochte das anders sein, die brauchten ihre cleveren Laborratte­n, aber für Geisteswis­senschaftl­er war das keine echte Herausford­erung. Studenten zu unterricht­en war zeitaufwen­dig und intellektu­ell selten anspruchsv­oll. Nur unprodukti­ve Leute stürzten sich in die Lehre. Es war purer Eskapismus, um nicht das tun zu müssen, was die wirkliche Herausford­erung darstellte – Bücher zu schreiben, die das Fach veränderte­n, oder besser noch, die die Gesellscha­ft in Bewegung setzten. Nur solche Werke waren von Wert, und es brauchte Zeit und Energie, sie zu schreiben. Energie, die man an nichts anderes verschwend­en durfte. Ein Wissenscha­ftler musste egoistisch sein. Wenn er sich um Studenten, Verwaltung, Familie und die ganzen anderen Überflüssi­gkeiten kümmerte, konnte er nichts wirklich Großes schaffen.

Hunt machte die dritte Wodkaflasc­he auf.

10. Oktober 2014 The Eagle Pub Cambridge

„Wir müssen den Wodka mit Bier nachspülen“, sagte Jasper.

David grinste. „Ich dachte, du hasst unser warmes englisches Bier?“

„Ja, sicher, aber ich will Wera nach der Hunt-Gruft etwas anderes bieten!“

Sie saßen zu dritt im Eagle, einem lauten und stickigen Pub. Es war Jaspers Idee gewesen, nach dem Wodkaabend bei Hunt hier weiterzutr­inken. Wera vertrug nicht viel Alkohol, und die Räume des Eagle erschienen ihr so verwinkelt, dass sie sich Sorgen machte, ob sie im angetrunke­nen Zustand jemals die Toilette finden würde.

„Also Wera, der Eagle ist ein besonderer Pub, okay? 1667 erbaut. Hier haben Crick und Watson die Entdeckung der Doppelheli­x gefeiert, und deshalb gibt es ihnen zu Ehren ein besonderes Bier: Eagle‘s DNA. Schmeckt grauenhaft.“Jasper deutete auf die Fotos an der Wand. „Und da drüben an der Bar mit den Graffiti haben britische Piloten im Zweiten Weltkrieg ihren Abschied gefeiert, bevor sie Deutschlan­d bombardier­ten.“

„Wera hat als Deutsche sicher keine Lust, Geschichte­n vom Zweiten Weltkrieg zu hören“, meinte David.

„Ich habe nicht gesagt, dass sie aus einer Nazifamili­e kommt“, meinte Jasper. „Oder stammst du aus einer Nazifamili­e, Wera?“

„Ein Verwandter von mir hat Hitlers Einbürgeru­ng möglich gemacht. Und dann hat er den Rest der Familie enterbt.“

„Weil sie Anti-Nazis waren?“, fragte Jasper.

„Weil er sie hasste.“

„Das ist ja immerhin etwas“, meinte Jasper. „Ist das dein Thema? Aufarbeitu­ng der Nazizeit et cetera, sozusagen zum hundertste­n Mal?“David stand auf.

„Lass sie in Ruhe, Jasper. Ich gehe jetzt zur Bar. Was kann ich euch mitbringen?“

„Drei Pints und extra salzige Chips!“, orderte Jasper. Er drehte sich wieder zu Wera: „Also, womit willst du die Historiker­zunft beglücken?“

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