Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Meine Idee ist, eine Kim-Philby-Biografie zu schreiben, aber es ist schwieriger, als ich dachte.“
„Lass mich raten. Hunt hat dir davon abgeraten.“
„Ich glaube nicht, dass er mich als Doktorandin überhaupt wollte.“
Jasper schien nicht überrascht. „Der ist bekannt für seine enormen Ansprüche. Mir hat neulich ein ehemaliger Student von ihm erzählt, wie er ihn hundertmal einen Satz hat umschreiben lassen.“
David stellte drei Pints auf den Tisch. „Lass die Horrorgeschichten, Jasper.“
„Das gilt natürlich nicht für unseren David. Er ist Professor Hunts Liebling und erhält eine Sonderbehandlung. Wusstest du, dass Davids Vater und Hunt zusammen studiert haben? Das ist ein altes Netzwerk.“
„Du redest so einen Scheiß, Jasper. Mein Vater und Hunt sprechen seit Jahrzehnten kein Wort miteinander. Und außerdem ist mein Vater kein Historiker. Er versteht nichts von dem, was ich mache.“
Wera nippte an ihrem Pint. Das Bier war lauwarm. „Was macht dein Vater?“
„Er arbeitet im Science Park an Robotern.“
„Er heißt nicht zufällig Stef?“, fragte Wera. Das wäre ein unglaublicher Zufall.
„Ja, wie kommst du darauf?“
„Ich saß neulich neben einem Mann namens Stef, der an Robotern arbeitet. Bei einem Dinner des Masters von New College.“
„Wie hast du es geschafft, so eine Einladung zu bekommen?“, mischte Jasper sich ein.
„Es war eine Verwechslung mit einer anderen Wera.“
„Wirklich? Wünschte, mir würde das mal passieren.“
Wera schob das Pint beiseite.
„Es war sicher meine letzte Chance auf ein exklusives Cambridgedinner, wenn ich keine Lösung für mein Kim- Philby-Problem finde.“
„Willkommen im Club“, sagte Jasper. „Ich bin mit meinem Thema über Protestbewegungen der Siebzigerjahre in der gleichen Lage. Diese britischen Drecksäcke in den Archiven geben einfach kein Material frei.“
„Okay“, sagte Wera. „Aber die Leute aus den Siebzigern leben ja alle noch. Da gibt es sicher Datenschutz oder so was. Aber meine Leute aus den 1930er- und 1940er-Jahren sind alle tot. Was ist da noch politisch brisant?“
Jasper klang jetzt sehr überlegen: „Verstehst du nicht? Den Briten geht es um ihre Reputation. Ihr Deutschen wart alle Verbrecher, ihr musstet das offenlegen. Euch blieb ja gar nichts anderes übrig, als euer ganzes Nazimaterial freizugeben, nachdem die Amerikaner es gesehen hatten. Aber die Briten haben eben auch ein paar schmutzige Geheimnisse, und die passen nicht zum Image der Saubermänner. Also bleiben sie schön unter Verschluss.“
David schob Wera seine Chipstüte zu.
„Es ist nicht ganz so hoffnungslos, wie Jasper es darstellt. Wir Briten sind nicht alle ,Drecksäcke’. Hast du von den Mitrochin-Papieren gehört?“
„Nein? Was ist das?“David lächelte sie an. „Deine Rettung.“
Oktober 2014 Cambridge
Man hatte ihr gesagt, sie solle sich auf den Science Park konzentrieren. Jeder, der dort arbeitete, war von Interesse, die Mitarbeiter der Putzkolonne ebenso wie die Wissenschaftler. Keine Möglichkeit durfte übersehen werden. Das ganze Projekt war langfristig angelegt, man setzte sie nicht unter Zeitdruck. Ihre Vorgesetzten wussten, dass genügend Zeit und gute Vorbereitungen essenziell waren. Man musste Geduld haben und warten können. Früher hatte man für ähnliche Aufgaben häufig Kriminelle eingesetzt. Man hatte sie entweder selbst ausgebildet oder speziell für die Operation angeworben. Sie brachen die Tresore auf und fotografierten das Material ab. Heute machte man das Gleiche mit Hackerangriffen. Doch die wirkliche Kunst blieb es, jemanden auszurauben, ohne dass er es bemerkte. So etwas war nicht mit roher Gewalt oder ein paar geschickten Mausklicks zu erreichen. Es glich eher einem komplexen Schachspiel. Kim Philby hatte dieses Spiel besser beherrscht als alle vor und nach ihm. Aus diesem Grund war er ihr Vorbild geworden. Es gab kein Buch und keinen Zeitungsbericht, den sie nicht über ihn gelesen hatte, aber am meisten gefielen ihr seine Memoiren. Wie er sich darin über seine gutgläubigen Kollegen im britischen Nachrichtendienst lustig machte, die absolut nichts verstanden. In seiner Autobiografie hatte er auch seine Berufsauffassung beschrieben, sie kannte die Stelle auswendig:
„Agent ist freilich ein Ausdruck, der sich sehr verschieden deuten lässt. Man kann damit einen einfachen Kurier meinen, der Meldungen von einem Punkt zum anderen übermittelt, oder den, der die Meldungen abfasst; und schließlich kann die Bezeichnung auch beratende oder sogar ausübende Funktionen einschließen. Ich habe das erste Stadium rasch hinter mich gebracht und schrieb oder lieferte bald Informationen in immer größeren Mengen. Je größer mein Wissen und meine Erfahrung wurden, desto mehr beratende und ausübende Funktionen kamen zum Sammeln und Übermitteln von Nachrichten hinzu.“
Sie hatte etwas ganz Ähnliches durchlaufen. Ihr Talent war sofort erkannt worden, und so war sie schnell mehr als ein Kurier geworden. Wie Kim Philby konnte sie beides – sammeln und kommentieren. Auch wenn sie Generationen voneinander entfernt waren, verband sie dies noch stärker miteinander.
Genau wie sie war er schon als ganz junger Mann ein Chamäleon geworden, das jede Rolle spielen konnte, die von ihm verlangt wurde. Dazu gehörte auch die des Mörders. Er war ein lächelnder Mörder geworden, dem niemand etwas anmerkte. Im Laufe der Jahre hatte er zahlreiche Morde in Auftrag gegeben, und sie waren erfolgreich ausgeführt worden. In seiner Autobiografie erwähnte er nichts dergleichen, aber sie nahm an, dass er gelegentlich auch selbst gemordet hatte. Es gehörte zum Geschäft und war manchmal eben unvermeidbar. Sie hatte es noch nie getan, aber wenn man es von ihr verlangte, würde sie keinen Moment zögern.