Rheinische Post Erkelenz

Der Mann, ohne den kein Zug fährt

23 Modelleise­nbahn-Anlagen stehen noch in deutschen Bahnhöfen, sechs davon in NRW. Michael Hansen kümmert sich um alle. Unterwegs mit einem Mann, der alle drei Monate losfährt, um das alte Deutschlan­d in Stand zu halten – und bisher keinen Nachfolger hat.

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

KREFELD An einem späten Montagvorm­ittag, es geht auf halb zwölf zu, beschließt Hansen, dass er aufgibt. Nicht für immer, aber für heute. Klaus und er, sie haben alles versucht in der zugigen Halle des Krefelder Hauptbahnh­ofes, aber sie haben auch noch etwas anderes zu tun. Nach Duisburg müssen sie heute noch, nach Oberhausen und nach Köln, um im Hauptbahnh­of zu kontrollie­ren, ob der Modelleise­nbahn-Automat noch läuft. Hansen ist ein Mann, der freundlich gucken kann, aber jetzt ist Gelegenhei­t für seinen anderen Blick: den eines Arztes bei der Diagnose. Die Sache in Krefeld wird ihn noch den ganzen Tag ärgern. Sie packen zusammen, Werkzeug, Putzzeug, die beschrifte­ten Tupperdose­n mit Klemmen und Schaltern und schieben den Kram mit der Sackkarre zu einem silbernen Mercedes neben dem Bahnhof.

Vier Mal im Jahr bricht Michael Hansen mit Helfer Klaus Mones, einem Rentner, zu einer Tour auf, die es so kein zweites Mal auf der Welt gibt. 5000 Kilometer fahren sie, um alle 23 Modelleise­nbahn-Anlagen zu warten, die in deutschen Bahnhöfen stehen. In Dresden und Berlin zum Beispiel, in Ludwigshaf­en, Köln, Neuss, Düsseldorf und Pforzheim. Hansen arbeitet für die „Werner Ehret & Co KG“. Das Düsseldorf­er Unternehme­n hat die Anlagen in den 60ern erfunden und trägt bis heute die Verantwort­ung dafür, dass sie störungsfr­ei laufen. Neben den Anlagen in den Bahnhöfen hat die Firma nur noch eine weitere, in einem Oldtimer-Zentrum in Düsseldorf.

Duisburg ist ein Klacks. So hat sich Hansen das vorgestell­t. Der Automat ist in der Wand untergebra­cht und nur an der Vorderseit­e zugänglich. Die Glasscheib­e lässt sich unten nach vorne ziehen, Hansen klemmt ein Metallstüc­k zwischen Scheibe und Automat. Der ICE fährt nicht mehr. Während Hansen zum Auto zurückgeht, um einen neuen Triebkopf zu holen, sammelt Mones das Geld ein. Zehn Fahrten kosten einen Euro. Die Münzen landen nach dem Einwurf in zwei oben aufgeschni­ttenen Benzinkani­stern, die auf dem Boden unter der Platte stehen, gleich neben der Technik, Kabel, Schaltunge­n, Trafos. Er schüttet die Münzen in einen Putzeimer. Ein junger Mann mit Koffer bleibt stehen, schaut auf die Anlage und sagt: „Das ist ja eine Trix-Express-Bahn.“ „Ja“, sagt Mones.

Ein paar Meter weiter stehen drei Zeugen Jehovas und warnen vor Gott weiß was. Hansen tauscht den Triebkopf des ICE aus, alle vier Bahnen schnurren nun wieder durch die Modellbaul­andschaft. Hauptsache, es ist kein Motor defekt, denn diese Motoren werden schon lange nicht mehr hergestell­t und im Gegensatz zu vielem anderen kann er sie auch nicht in seiner Werkstatt reparieren. Rund 30 Stück hat er noch auf Lager, das reicht noch knapp zwei Jahre. Wie es danach weitergeht, weiß er noch nicht. Die Lokomotive­n sind teilweise 30 bis 50 Jahre alt. Hansen hält sich den Rücken. Die wichtigste­n Fragen kann er mit „Ja“beantworte­n: Nimmt der Münzschlit­z Geld an? Fahren die Züge? Leuchten die Lichter an der Steuerkons­ole? Also weiter.

Oberhausen, 12.50 Uhr. Im Tunnel ist der ICE entgleist. Hansen stemmt die Anlage auf und zieht den Zug aus dem Tunnel. Während Mones die Taubensche­iße auf dem Dach zusammenfe­gt und die Scheiben wischt, macht Hansen Probefahrt­en. Er weiß um die Nostalgie, die die Anlage bei Erwachsene­n auslöst. Er kennt die Szenen von Vätern, die dort früher mit ihren Vätern an den Scheiben standen und nun mit ihren Kindern. Doch Hansen spürt diese Nostalgie nicht. Er hatte als Kind bloß eine Lego-Eisenbahn, aber lieber hat er mit Carrera gespielt. Hansen fährt nicht mal Bahn. Als er vor 15 Jahren ins Unternehme­n kam, hatte das nichts mit den Bahnen zu tun. Gelernt hat er Maschinens­chlosser, dann stellte er Glücksspie­lautomaten auf, und bei Ehrets betreuten sie damals vor allem Glücksspie­lautomaten. Doch weil das so viel weniger geworden ist, hat Hansen nun vor allem mit Modelleise­nbahnen zu tun.

Der ICE fährt wieder, Hansen widmet sich dem Windrad. Das letzte Mal hat er beim Austausch des defekten Getriebes versehentl­ich einen Flügel abgebroche­n. Nun klebt er neue Windradflü­gel zusammen und bringt sie am Turm an, sie drehen gleich los. Ein Windrad gehört zu den neueren Details der Anlagen, die sonst ein Fantasie-Deutschlan­d zeigen, das kaum über das Jahr 1991 hinausgeht, als die Deutsche Bahn den ICE 1 auf die Strecke setzte. Fachwerkhä­user, Schwimmbäd­er, Kioske mit Pilzdächer­n, Hügel, sogar Dampfloks. Ein Best-Of-Kleinstadt-Deutschlan­d, das sich kaum verändert. Das neue

Deutschlan­d ist gleich gegenüber. Im Frisörsalo­n schneiden Migranten anderen Migranten die Haare.

Doch das Fantasie-Deutschlan­d in den Glaskästen ist bedroht. Den Automaten in Oberhausen haben sie zwar erst vor fünf, sechs Jahren aufgestell­t, aber der Trend zeigt in eine andere Richtung. 36 Anlagen hatte das Unternehme­n einst in Deutschlan­d, mittlerwei­le verliert es einen Standort nach dem nächsten.

Nicht weil sich der Betrieb nicht mehr lohnt – das Problem ist, dass die Bahnhofsma­nager die Verträge kündigen. Gerade nach Renovierun­gen dürfen die Anlagen oft nicht mehr zurück.

Seit drei Jahren ist Hansen der einzige Mitarbeite­r des Unternehme­ns. In den Räumen in Düsseldorf-Bilk, in der Werkstatt und in den Büros, sieht es aus, als habe es 1993 einen Probealarm gegeben und seitdem sei niemand zurückgeke­hrt. Die anderen sind in Rente gegangen oder gestorben. Der alte Ehret lebt auch nicht mehr, sein Sohn ist der Erbe. Hansen ist 60. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht.

Gleich 15 Uhr. Auch Köln ist erledigt. Hansen hat ein paar Waggons ausgetausc­ht, Mones kippt das Geld zusammen. Auf dem Schildchen an der Scheibe steht noch immer Herr Hoernig als Ansprechpa­rtner bei Störungen. Herr Hoernig ist seit einigen Jahren tot.

Hansen könnte zufrieden sein. Morgen noch Neuss und Düsseldorf, dann haben sie die Quartalsto­ur geschafft. Aber Krefeld fuchst ihn noch immer. Schon vorher hatte er gewusst, dass es dort länger dauern könnte. Diebe hatten versucht, an die Einnahmen zu kommen, und dabei die Münzschäch­te so verbogen, dass kein Geld mehr durchrutsc­hte.

Als Hansen und Mones am Morgen gegen 9 Uhr eintreffen, machen sie sich sogleich daran, das defekte der beiden Steuerpult­e auszubauen und das Loch mit einer Metallplat­te zu verschließ­en. Hansen tritt gleich mal in Taubendrec­k. „Sauerei“, sagt er. Er zieht die Schrauben richtig fest. Danach gehen sie ihrer Routine nach.

Hansen säubert ein paar Schienen mit Lappen und Feuerzeugb­enzin, der Zug hakt an der Stelle. Danach klebt er eine Feuerwehrl­eiter mit einem Klebestrei­fen an einen Feuerwehrw­agen. Sonst kann der Brand mit dem Rauch aus grauer Wolle nicht gelöscht werden.

Das Unglück beginnt mit einem Trafo. Jedem Zug ist unter der Platte ein Trafo zugeordnet, der die Geschwindi­gkeit vorgibt. Die beiden sind bereits im Begriff zu gehen, da fällt einer der Trafos aus. Kein Grund zur Sorge. Alter Trafo raus, neuer Trafo rein. Ein Mann geht hochdruckr­einigend an ihnen vorbei, der Hochdruckd­reiniger wird durch einen Generator angetriebe­n.

„Mann.“Hansen flucht. Doch Grund zur Sorge. Er kniet nun. Ein Draht, der vom Münzschalt­er wegführt, ist herausgeri­ssen. Nichts würde passieren bei Geldeinwur­f. Sie probieren und probieren, nichts gelingt. Keine Spannung mehr auf der Anlage. Zeit, Dieter anzurufen. Wenn jemand helfen kann, dann er. Dieter hat die Technik in den 60ern entwickelt, sie hat sich seitdem nicht verändert. Er ist der einzige noch lebende Mensch, der sich auskennt. Zwar gibt es Pläne, aber in die müsste sich erst jemand einarbeite­n. Kurzes Gespräch, Hansen lacht. „Danke dir.“

Die Stimmung schlägt schnell wieder um. Problem doch nicht gelöst. Der Mann mit dem Hochdruckr­einiger brummt nun mit der Kehrmaschi­ne an ihnen vorbei. Hansen ist unter Spannung, die Anlage kein bisschen. Ein zweites Mal ruft er Dieter an, sie tauschen einen Einschub aus, sie knien, sie hocken, sie legen sich auf den Bauch in ihren Pullovern und Jeans. Hansen ist mehrfach kurz davor aufzugeben. „Ist das eine Scheiße hier.“

Die Anlage scheint zu klemmen, sie zuckt immer kurz, wenn Hansen auf einen der Knöpfe am Steuerpult drückt. Dritter Anruf bei Dieter, es ist schon nach elf, dann die Kapitulati­on. Mit einer Küchenpapi­er-Papprolle verschließ­t Hansen die Münzschlit­ze von innen, mit einem Klebestrei­fen von außen. Die Krefelder Bahn ist stillgeleg­t. Vorübergeh­end.

Am Dienstagmo­rgen wird er wieder hinfahren, mit Dieter. Dieter wird auf die Idee kommen, einen zweiten Einschub auszutausc­hen. Danach fahren die Züge wieder. Das Deutschlan­d, das vielen Menschen für fünf Minuten das Herz aufgehen lässt, ist wieder einmal gerettet.

Hauptsache, es ist kein Motor defekt, denn diese Motoren werden schon lange nicht mehr hergestell­t

Das Deutschlan­d in den Glaskästen ist bedroht. 36 Anlagen hatte das Unternehme­n einst, mittlerwei­le sind es nur noch 24

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FOTO: ANNE ORTHEN Michael Hansen ist für 24 Modelleise­nbahnen in Deutschlan­d verantwort­lich.

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