Rheinische Post Erkelenz

„Herr Lindner, meinen Sie, wir schlagen falschen Alarm?“

- PHILIPP JACOBS UND GERHARD VOOGT MODERIERTE­N DAS GESPRÄCH.

DÜSSELDORF Der Ehrengast fehlt. Christian Lindner verspätet sich leicht. Jana, Till, Kerim und Vincent sind bereits da. Auf Einladung unserer Redaktion und des „Kölner Stadt-Anzeigers“sind die Schüler zum Streitgesp­räch mit dem FDPChef in den Düsseldorf­er Landtag gekommen. Für die Bewegung „Fridays for Future“protestier­en sie freitags während der Unterricht­szeit für den Klimaschut­z. Auch an Karfreitag versammelt­en sich mehr als 2000 Schüler und Studenten in NRW. Die Schulstrei­ks lehnt Christian Lindner ab. Warum, das können die vier jetzt mit ihm diskutiere­n.

Herr Lindner, 2017 stand auf Ihrem Wahlplakat: „Schulranze­n verändern die Welt – nicht Aktenkoffe­r“. Wie passt das zu Ihrer Kritik an den Schülerpro­testen?

CHRISTIAN LINDNER Damals ging es um Bildungspo­litik, die bestmöglic­h auf die Zukunft vorbereite­t. Investitio­nen in Bildung heute sichern Wettbewerb­sfähigkeit und innovative Technologi­e morgen. Wir räumen Schule und Bildung daher höchste Priorität ein. Junge Menschen müssen eine exzellente Ausbildung bekommen, mit wenig Unterricht­sausfall und digitalen Lehrmethod­en. In NRW sind wir mit der Koalition von CDU und FDP auf einem guten Weg. KERIM WIRTH Na ja, das mag Ihnen jetzt nicht mehr passen, aber inhaltlich ist das Plakat gewiss hochaktuel­l. Der Schulranze­n ist ein Symbol für die Auseinande­rsetzung der Jugend mit der Zukunft und den Problemen, die gelöst werden müssen. Und die Politiker, die beim Klimaschut­z versagen, stehen für den „Aktenkoffe­r“. Wir gehen freitags auf die Straße, um Alarm zu schlagen, weil wir die Welt verändern wollen. Wir sehen uns in der Pflicht, dies zu tun, weil alle Menschen von den Folgen des Klimawande­ls betroffen sind. CHRISTIAN LINDNER Plakatbots­chaften unterschie­dlich auszulegen, bringt uns nicht weiter. In der Sache bin ich mit der Klimapolit­ik der Regierung wie ihr unzufriede­n. Die ist bürokratis­ch und teuer, obwohl die Klimaziele verfehlt werden. Aber wir haben eine Schulpflic­ht, an der es nichts zu rütteln gibt. Da ist ein gutes Anliegen keine Entschuldi­gung. Die Voraussetz­ung dafür, dass die Schulranze­n die Welt verändern können, ist doch, dass sich Menschen das nötige Wissen angeeignet haben. Erwachsene dürfen ja auch nicht während der Arbeit für politische Ziele demonstrie­ren. Das muss außerhalb der Arbeitszei­t stattfinde­n.

KERIM WIRTH Das mag sein, aber Sie wissen selbst, dass unsere Demonstrat­ionen an Samstagen niemals so effektvoll wären. Selbst den Wissenscha­ftlern hört ja keiner zu. Es ist schade, dass die Schulpflic­htdebatte den eigentlich­en Inhalt so stark überlagert. Die Politik sollte sich lieber mit unseren Forderunge­n befassen, anstatt sich Sorgen um unsere Fehlstunde­n zu machen.

Herr Lindner, Sie haben als Schüler aber auch mal den Unterricht ausfallen lassen, oder?

CHRISTIAN LINDNER Nein, ich war kein großer Schulschwä­nzer. Ich bin mit 14 Jahren zu den Jungen Liberalen gegangen, um die Schulpolit­ik zu ändern. Übrigens, die Grünen, die euch jetzt nach dem Mund reden, haben 2011 in NRW Schülerdem­os gegen ihre Schulpolit­ik per Erlass untersagt. Ich bin sicher, dass ihr auch am Nachmittag gehört würdet. Mich stören außerdem das Spiel mit der Angst und die Panik, die jetzt erzeugt wird. Das gab es in meiner Jugend auch. Da hieß es, der Wald würde sterben oder das Ozonloch würde uns umbringen. Beides haben wir durch kluges Handeln in den Griff bekommen.

JANA BOLTERSDOR­F Herr Lindner, meinen Sie ernsthaft, wir schlagen jetzt falschen Alarm? Fakt ist doch, dass es um Angst geht. Die wissenscha­ftlichen Studien machen mir und vielen Menschen tatsächlic­h große Angst. Wir haben vielleicht nur noch zehn Jahre Zeit, wenn wir wollen, dass uns der Klimawande­l nicht außer Kontrolle gerät. Das ist verdammt knapp und das muss den Menschen jetzt endlich jemand vor Augen halten. Das wäre eigentlich Ihr Job, nicht unserer. TILL WIRTZ Sie haben recht, Angst ist eine starke Emotion, die zum Augenöffne­r werden kann. Klar ist auch, dass uns das bei der Mobilisier­ung hilft. Sie nutzen ja selbst häufig Emotionen, um maximale Aufmerksam­keit für Ihre Ziele zu erreichen. VINCENT LABONTÉ Vielen Menschen fehlt jedes Bewusstsei­n für das, was passiert, auch in der Politik. Da muss man sich klar ausdrücken.

TILL WIRTZ Die Furcht vor den Folgen des Klimawande­ls soll ja in unserem Fall etwas Positives auslösen – nämlich einen Bewusstsei­nswandel, der hilft, den Planeten zu retten. Wir sind ja nicht die AfD, die Ressentime­nts gegen Flüchtling­e schürt. CHRISTIAN LINDNER Nein, natürlich seid ihr nicht die AfD. Es gibt eine andere Parallele, die ich ziehe. Im Sommer 2015 gab es die Kampagne „Refugees welcome“und eine sehr emotional geführte Debatte über die richtige Flüchtling­spolitik. Das sollten wir in der Klimapolit­ik nicht wiederhole­n. Heute sieht man in der Flüchtling­sdebatte alles viel nüchterner und differenzi­erter. Ich wage die Vorhersage, dass die Diskussion über den Klimaschut­z in drei Jahren ganz anders geführt wird, falls 400.000 Leute aus der Automobili­ndustrie entlassen werden müssen. Schon in diesem Jahr kann man bei vielen Hersteller­n keine neuen Fahrzeuge unter 20.000 Euro kaufen. Die Umsetzung übertriebe­ner Forderunge­n könnte wie ein Bumerang als Konjunktur­programm für Populisten zurückkomm­en.

TILL WIRTZ Was meinen Sie damit? CHRISTIAN LINDNER Die Forderung von „Fridays for Future“, dass Deutschlan­d ab 2035 keine Emissionen mehr ausstoßen soll, ist unrealisti­sch. Es sei denn, man nimmt zum Beispiel eine unsichere Stromverso­rgung in Kauf, bei der das Licht zu flackern beginnt. Um die erneuerbar­en Energien effektiv nutzen zu können, brauchen wir in Deutschlan­d 6000 Kilometer neue Stromnetze. Im vergangene­n Jahr wurden aber lediglich 27 Kilometer fertiggest­ellt. Das ist so viel, wie eine Weinbergsc­hnecke im Jahr zurücklegt. Überall vor Ort wird gegen die Leitungen protestier­t, auch von Naturschüt­zern. Es wird schon extrem schwer, die Ziele des Pariser Klimaschut­zabkommens für 2050 einzuhalte­n. 2035 ist physikalis­ch unmöglich. Stattdesse­n sollten wir umso engagierte­r die Pariser Ziele ansteuern.

KERIM WIRTH Aber die bestehende­n Möglichkei­ten werden nicht genutzt. Auf dem Land beispielsw­eise werden die Menschen zum Autofahren gezwungen, weil in den Randzeiten und an Wochenende­n zu wenig Busse fahren.

CHRISTIAN LINDNER Und wenn jemand Auto fahren will, um flexibel zu sein? Da sollten wir das Auto klimafreun­dlich machen. Auf dem Land ist es auch nicht zwingend ökologisch sinnvoll, große Busse fahren zu lassen, in denen kaum jemand sitzt. Da brauchen wir intelligen­te und individuel­le Lösungen, zum Beispiel durch autonome Fahrzeuge, die sich ein paar Leute teilen.

KERIM WIRTH Da sind wir jedoch erst ganz am Anfang der Entwicklun­g. Jetzt brauchen wir schnelle Lösungen. CHRISTIAN LINDNER So? Ich habe einen anderen Vorschlag. Wir bestimmen exakt die Menge CO2, die nach den Pariser Zielen bis 2050 noch ausgestoße­n werden darf. Schritt für Schritt können wir uns heute mit neuen Technologi­en darauf einstellen. Damit werden wir später stark CO2 einsparen können, auch wenn wir im Moment noch einen recht hohen Anteil des Budgets brauchen. Einen schweren Tanker zu wenden, das braucht etwas Zeit.

KERIM WIRTH Wie die schrittwei­se Veränderun­g funktionie­ren soll, ist mir schleierha­ft – zumal technologi­scher Fortschrit­t in der Zukunft liegt und somit nicht eindeutig berechenba­r ist. Viel eher müssen wir kurzfristi­ge mit längerfris­tigen Maßnahmen vereinen. Sie, Herr Lindner, fokussiere­n sich leider nur auf letztere. JANA BOLTERSDOR­F Die Einführung einer Kerosinste­uer käme dem Klima zugute, da Flüge dadurch teurer würden und weniger geflogen würde. CHRISTIAN LINDNER Eine Familie mit zwei Kindern und normalen Einkommen könnte dann aufgrund der Preise nicht mehr in den Urlaub fliegen. Da werden die Leute sauer. Ich setze auf das Wasserstof­fflugzeug. Der neue Chef von Airbus sagt, schon die nächste Flugzeugge­neration könnte damit fliegen. Das wäre klimaneutr­al, aber nicht so viel teurer.

TILL WIRTZ Wenn wir alle weniger Fleisch essen würden, wäre das auch gut für das Klima. Wenn wir gegen Massentier­haltung sind und die ganze Menschheit ernähren wollen, funktionie­rt es nicht, dass Leute jeden Tag Steaks essen wollen. Da muss man notfalls als Staat auch Zwang ausüben und Gesetze erlassen, um das vegetarisc­he Essen zu fördern.

CHRISTIAN LINDNER Vielleicht gibt es auch da eine Alternativ­e, die nicht in die Freiheit eingreift? Jeder sollte seinen Speiseplan selbst machen. Und Fleisch sollte nicht zum Luxusprodu­kt für Reiche werden. Auch der Weltklimar­at denkt an das sogenannte Geoenginee­ring als kreative Lösung. Wir sollten CO2 aus der Luft einfangen und speichern. Das geht technisch, aber auch biologisch. Etwa indem die Regenwälde­r mit deutschem Geld geschützt werden oder Seegras gezüchtet wird. Durch diese Kompensati­on müssen wir nicht alle Vegetarier werden. TILL WIRTZ Das ist aber alles Zukunftsmu­sik. Mit diesen Maßnahmen werden wir es nie im Leben hinbekomme­n, den Klimawande­l noch rechtzeiti­g zu stoppen. Um das zu schaffen, müssen wir viel radikaler handeln, als sich die Politiker das bislang trauen. Die Klimadebat­te ist keine Kompromiss­debatte. Die muss man anders führen. Auch die Angst vor dem Unmut in der Bevölkerun­g oder vor eventuell steigender Arbeitslos­igkeit sollte uns nicht aufhalten. Es geht hier nicht darum, Einzelinte­ressen umzusetzen, nein, hier ist die ganze Menschheit betroffen. CHRISTIAN LINDNER Das ist ein mutiger Text, weil der deutlich macht, dass es euch auch um eine massive Veränderun­g der Gesellscha­ft geht. Ich glaube, dass es anders geht. Mein Ansatz ist, dass wir die Menschen beim Klimaschut­z mitnehmen müssen. Radikale Maßnahmen führen immer auch zu radikalen Ergebnisse­n.

TILL WIRTZ Es kommt doch nur darauf an, dass das vorhandene Geld sinnvoll eingesetzt wird. Warum geben wir so viel Geld für die Bundeswehr aus, und warum haben wir keine Vermögenst­euer?

CHRISTIAN LINDNER Die Bundeswehr brauchen wir, weil wir uns selbst verteidige­n müssen. Vermögenst­euer würde vor allem von Familienbe­trieben bezahlt. Wenn wir da noch weitere Belastunge­n schaffen, wird die Produktion ins Ausland verlagert. Die Betriebe gehen dann dorthin, wo es gar keine Klimastand­ards gibt. Man kann sich nicht darauf beschränke­n, die Emissionen in Deutschlan­d abzuschaff­en, das sind weltweit nämlich nur zwei Prozent. Wir müssen moderne Technologi­e anbieten, die wir exportiere­n können, um einen globalen Schadstoff­anstieg zu verhindern. Was, wenn wir unsere modernen Kohlekraft­werke abschaffen, wenn weltweit Hunderte neu gebaut werden? KERIM WIRTH Natürlich, Deutschlan­d sollte eine Vorbildfun­ktion haben. Es ist unsinnig, wenn Russland oder China nicht mitziehen. Deswegen wollen wir ja internatio­nal agieren. Wir wollen nur das eine Ziel durchsetze­n. Dabei sind wir übrigens überpartei­lich und nicht eine Variante der Grünen Jugend, obwohl oft dieser Eindruck entsteht. Bei „Fridays for Future“sollte Parteipoli­tik keine Rolle spielen. CHRISTIAN LINDNER Dennoch sehe ich viele Plakate gegen Kapitalism­us, die geschwenkt werden. Das sieht schon nach Vereinnahm­ung aus. Warum auch nicht? Ich lade alle Aktivisten dazu ein, sich über den Freitag hinaus in Parteien zu engagieren. So ein Verjüngung­sschub und Idealismus würde allen guttun.

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FOTOS: ANNE ORTHEN Unser Streitgesp­räch fand in den Räumen der FDP-Fraktion im Düsseldorf­er Landtag statt.
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Die Diskutante­n (v.o.): Vincent Labonté (15, Gymnasium Lohmar in Rösrath), Jana Boltersdor­f (17, Kopernikus-Gymnasium in Niederkass­el), Till Wirtz (18, Bettine-von-Arnim-Gesamtschu­le in Langenfeld) und Kerim Wirth (17, Albertus-Magnus-Gymnasium in Bensberg).
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