Das ukrainische Experiment
KIEW/CHARKIW Oleg Trofimov sitzt am Küchentisch eines alten Freundes in Kiew. Es gibt Borschtsch, die traditionelle ukrainische Suppe aus Roter Bete. Trofimov rührt einen Löffel Schmand hinein. Er ist 61 Jahre alt, das Haar ist grau, der Blick konzentriert. Mit seinem Freund spricht Trofimov über das Essen („köstlich“), das Wetter („trüb“), die Politik. Die lässt sich nicht in einem Wort zusammenfassen. Ukraine und Politik, das ist kompliziert. „Ihr Europäer müsst doch über uns lachen“, sagt Trofimov. „Es sagt schon viel über die Lage unseres Landes aus, dass wir einen Komiker zum Präsidenten wählen wollen.“Die Stichwahl um das Amt des Präsidenten ist in diesen Tagen das alles bestimmende Thema in der Ukraine.
Zwei Namen stehen am Sonntag auf dem Stimmzettel: Petro Poroschenko und Wolodimir Selenskij. Poroschenko ist der Präsident, Selenskij – von Beruf Komiker – sein Herausforderer. Ohne jede politische Erfahrung. Er hat die erste Runde gewonnen und führt kurz vor der Stichwahl haushoch in allen Umfragen. Egal was Poroschenko macht, Selenskij ist beliebter. „Komiker oder nicht, das spielt doch keine Rolle“, meint Oleg Trofimov. „Wir hatten mit Janukowitsch einen Vorbestraften als Staatsoberhaupt, mit Poroschenko regiert gerade ein Oligarch unser Land. Selenskij ist dagegen ein vernünftiger Typ, hat sein Geld ehrlich verdient. Er ist ein kreativer Kopf, der das System verändern wird.” Für Menschen wie Trofimov ist Selenskij auch ohne ausgefeiltes Programm ein Hoffnungsträger.
Die Hoffnung ist ein politischer Neustart, der Bruch mit einem durch und durch korrupten System. Die allermeisten wählen Selenskij aber wohl aus reinem Protest
Am Sonntag wählen die Ukrainer ihr Staatsoberhaupt. Wolodimir Selenskij, ein Komiker, ist Favorit gegen Präsident Petro Poroschenko. Wie konnte es dazu kommen?
gegen die politischen Eliten. Es wirkt, als sei er die Projektionsfläche für unerfüllte Forderungen. Die Gehälter sind klein, die Renten mickrig. Das Leben aber ist sehr teuer geworden. Es gibt einige reiche und immer mehr arme Menschen. Der Krieg im Donbass gegen die prorussischen Milizen findet kein Ende. All das legen die Menschen Poroschenko zur Last. Selenskij sehen sie nicht als Messias, sie glauben nicht, dass er das Land retten wird. Sie halten ihn für die bessere Wahl, weil er anders ist. Jung, unverbraucht. Aber wer ist dieser Mann, und wofür steht er?
Wolodimir Selenskij, 41 Jahre alt, hat Jura studiert und als Stand-up-Comedian seine Medienkarriere begonnen. Mittlerweile ist er Chef einer eigenen Produktionsfirma, Studio Kvartal 95, und spielt in einer der beliebtesten TV-Serien des Landes einen Geschichtslehrer, der über Nacht zum Präsidenten wird. „Diener des Volkes“heißt die Serie. Die dritte Staffel wurde kurz vor der Wahl veröffentlicht. Selenskijs Partei heißt ebenfalls „Diener des Volkes”. Wie auf dem Bildschirm vermittelt Selenskij den Menschen im Wahlkampf, dass er ein Mann aus der Mitte des Volkes ist, der genug vom elitären Gemauschel hat. Er verspricht nicht, dass er es besser machen wird. Er verspricht, dass er es versuchen wird. Vom Präsidentendarsteller zum Präsidenten – die frühzeitige Gründung seiner politischen Partei 2017 und der professionell organisierte Wahlkampf sprechen dafür, dass dieses Drehbuch von langer Hand geplant sein könnte. Ein
Plan, der nicht allen gefällt.
Oksana Iliuk ist vor drei Wochen aus dem
Westen der Ukraine in die
Hauptstadt gezogen. Der Grund ist ihr erster fester Job.
Sie hat Politik studiert und arbeitet jetzt für die Nichtregierungsorganisation Internews, die in Zeiten gezielter Desinformation für politische Aufklärung sorgen will. Iliuk ist stolz auf ihr Land und die junge Demokratie. Und sie wünscht sich, dass andere ihr Land besser zu verstehen lernen. „Wenn du im Ausland bist und fragst, was die Leute mit der Ukraine verbinden, dann wird die Annexion der Krim genannt, der Krieg in der Ostukraine und vielleicht noch die Klitschko-Brüder“, sagt die 22-Jährige und verdreht die Augen. „Und wenn Selenskij gewinnt, auch noch der Komiker-Präsident.“Iliuk hat im ersten Wahlgang für Poroschenko gestimmt. Am Sonntag will sie das erneut tun. Er sei der Erfahrenere, der Kompetentere für das Amt und habe wichtige Reformen angestoßen, findet sie. Die Neustrukturierung der Armee etwa oder die Visafreiheit für Ukrainer bei Reisen in die EU. Immer wenn der Name Selenskij fällt, wird die junge Ukrainerin beinahe zynisch. „Selenskij wäre wahrscheinlich das erste Staatsoberhaupt, das nicht in der Lage ist, fließend die Amtssprache des eigenen Landes zu sprechen.“Der Vorwurf ist berechtigt. Der Komiker ist mit Russisch großgeworden, beherrscht Ukrainisch nur begrenzt. Interviews beginnt er oft mit zwei Sätzen auf Ukrainisch, um im nächsten Moment ins Russische zu springen. Doch es ist weniger die Sprache als die Ungewissheit, die Oksana Iliuk zu schaffen macht. „Wir sind ein Land im Krieg, da können wir uns keinen Polit-Anfänger leisten.“Stabilität und Sicherheit seien jetzt gefragt.
Angela Merkel scheint diese Position zu teilen. Sie machte jüngst deutlich, dass sie auf den bewährten Partner setzt. Eine knappe Woche vor der Stichwahl empfing Merkel Poroschenko im Kanzleramt. Selenskij hatte sie – anders als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron – gar nicht erst eingeladen. Das Auswärtige Amt reagierte mit Unverständnis auf diese indirekte Wahlkampfhilfe, wie unsere Redaktion aus Regierungskreisen erfuhr. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz der Diplomatie, solche Treffen unmittelbar vor Wahlen zu vermeiden.
Knapp 2000 Kilometer vom Berliner Regierungsviertel entfernt überlegt Kirill Klimovskij in der ostukrainischen Metropole Charkiw, wem er seine Stimme geben soll. Er ist 29, Vater eines kleinen Jungen und leitet eine Druckerei. „Jeder Ukrainer hat sich im Kopf seinen eigenen Selenskij geformt – wie er ihn am liebsten haben würde”, sagt Klimovskij. Deshalb sei es so verlockend, ihn zu wählen. Poroschenko habe zwar für Transparenz gesorgt, indem er Daten und Register zugänglich machte – damit waren krumme Geschäfte offen einsehbar. Der Kampf gegen die Korruption aber sei halbherzig geblieben. „Tief in mir wünsche ich mir eine Veränderung. Aber Selenskij ist eine Katze im Sack – am Sonntag muss ich mich entscheiden, ob ich sie kaufe”, sagt Klimovskij und lächelt.
Die Präsidentschaftswahl steht im Fokus internationaler Beobachter. Die Grünen-Politikerin und EU-Abgeordnete Rebecca Harms leitet die Wahlbeobachtungsmission des Europäischen Parlaments. Das Land kennt sie gut. „In Bereichen wie Justiz, Polizei, öffentliche Ausschreibungen, Energie- und Gesundheitswesen und Dezentralisierung muss es weiter um eine konsequente Umsetzung von Reformen gehen”, fordert Harms. Die Ziele der Revolution von 2014 zu verwirklichen, werde eher eine Generation dauern als eine Legislaturperiode. „Wir müssen jetzt darauf achten, dass die Bürger mehr von den Reformen haben und nicht denken, sie steckten in einer Abwärtsspirale, und nur der ukrainischen Oberschicht gehe es besser.” Genau das beklagen viele, mit denen man ins Gespräch kommt.
Fast 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion wissen die Ukrainer sehr genau, was sie wollen: die Bekämpfung der Korruption, ein Ende des Kriegs und Veränderung. Wonach sie suchen, ist der Weg dahin.