Rheinische Post Erkelenz

Ein guter Christ ist auch Tourist

- Der eindrucksv­olle gotische Magdeburge­r Dom, Wahrzeiche­n der Stadt, wurde vor 800 Jahren gebaut. VON WOLFRAM GOERTZ

PARIS Wir alle haben diese beiden Türme im Kopf, die nacheinand­er in Schutt und Asche fielen, in einem gespenstis­chen Moment in Manhattan, den die Welt vor knapp 18 Jahren live im Fernseher verfolgte. Und jeder, der jetzt die Bilder der brennenden Kathedrale Notre-Dame in Paris sah, musste befürchten, dass ihre Zwillingst­ürme ebenfalls ein Opfer würden, nicht des Terrors, sondern der Flammen. Wie groß war das Aufatmen, dass die Türme überlebten und vieles andere dieser herrlichen Kirche auch.

Hätte die Welt ebenso gebangt und gehofft, wenn es sich um ein Kirchlein in der Lüneburger Heide gehandelt hätte? Wohl nicht. Dome und Kathedrale­n sind eine andere Hausnummer, meistens tragen sie auch gar keine, weil sie frei von jedem kartografi­schen Raster aus Städten herausrage­n – Monolithen gleich, die Form und Raum, Stil und Freiheit in der größten denkbaren Dimension himmelwärt­s streben lassen.

Gotische Kathedrale­n besitzen den Kontakt zum Firmament in besonderem Maß; das architekto­nische Element der Flucht beschreibe­n sie nämlich in der Vertikalen. Ihr Anblick ist eine Urerfahrun­g

Gotische Kathedrale­n wie Notre-Dame in Paris, deren Architektu­r gen Himmel strebt, üben auf viele Menschen eine magische Anziehungs­kraft aus. Woher kommt das?

und bereitet einem jedes Mal fast kindliche Freude. Wenn dieses Ritual der Begrüßung ausfällt (etwa durch eine Umleitung auf der A 57 nach Köln), ist das wie ein Stich ins Herz. Die Black Fööss haben das in ihrem „Spanien-Lied“beschriebe­n: „He fählt nur vum Balkon die Aussich op d‘r Dom!“

In Frankreich besitzen auch kleinere Städte eine Kathedrale, doch nicht alle sind von weither zu sehen.

Die Mauern und Fenster der Gotteshäus­er dichten das Heilige gegen die Welt ab

Die Kathedrale von Beauvais prunkt mit dem höchsten Kirchengew­ölbe der Welt (knapp 50 Meter), doch einen Turm hat sie nicht. Doppelt bedient wird man in Clermont-Ferrand, in Orléans oder in Tours, wobei die Türme häufig ein wenig verspielt wirken. Manchmal sehen sie auch aus, als sei von weiter oben eine Sense durch die Wolken gefahren und habe versehentl­ich die Türme erwischt. Der Prahlhans unter den gotischen Kathedrale­n ist der Limburger Dom: sieben Türme!

Vor all diesen wundervoll­en Kathedrale­n von Magdeburg bis Antwerpen, von Burgos bis Chartres steht man in orthopädis­ch bedenklich­er Haltung, man staunt sich den Nacken krumm, doch das ändert sich, wenn man sie betritt. Den Besucher umfängt Stille (in Kathedrale­n wird niemals geredet, sondern geflüstert), Dunkelheit senkt sich wie ein Mantel über ihn. Wer je im Kirchensch­iff von Notre-Dame stand, der fühlte, wie diese Kathedrale die Elemente miteinande­r reden lässt, in einer Art wortlosem Kolloquium.

Licht fällt durch die grandiosen Rosettenfe­nster und erzählt biblische oder florale Geschichte­n, die Orgel operiert mit Wind, dem Treibstoff des Heiligen Geists, Reliquien künden wie stumme Zeugen von einer fernen Zeit, da Glaube mitsamt seinen Predigern, Symbolen und Elementart­eilchen geborgen ward. In einem solch pfingstlic­hen Szenario spürt der Besucher die Obhut Gottes, die unterschie­dslos jedem gewährt wird. Ein sicherer Raum: In einer Kirche kann niemand von draußen erkannt werden, die Mauern und Fenster dichten das Heilige gegen die Welt ab.

Warum fasziniere­n Kathedrale­n uns, warum verlassen wir sie immer mit Demut und sind fast empört, wenn unsere Andacht vom Lärm der Vorplätze belästigt wird? Kathedrale­n stillen unsere Sehnsucht nach Erhabenhei­t. Sie wirken feierlich und unangreifb­ar, nicht gebaut, sondern erschaffen – als Monumente der Stille und des baumeister­lichen Gotteslobs. Eure Majestät!

Freilich sind auffällig viele Kathedrale­n weiblich und nach der Muttergott­es benannt. Auch in Paris wurde sie von Anbeginn unter ihren Schutz und Schirm gestellt, was sich in der Stunde ihrer eigenen Verwundung kurz vor der Katastroph­e als segensreic­h erwies. Es waren aber die Feuerwehrl­eute, die als Nothelfer die Kathedrale von innen retteten. Allen voran der Kaplan der Pariser Feuerwehr, Jean Marc Fournier, der in der Brandnacht unter Todesgefah­r schnurstra­cks auf die Dornenkron­e zulief, die Jesus angeblich bei seiner Kreuzigung getragen hat, und sie in Sicherheit brachte. Der Mann ist seitdem ein Volksheld.

Was unterschei­det Dome, Münsterkir­chen und Basiliken von der bescheiden­en Stadtkirch­e, in der wir die Taufe, die Kommunion, die Konfirmati­on empfangen haben? Eigentlich nichts, doch ein guter Christ ist auch Tourist und schaut gern anderswo nach, wie Gott so wohnt. Wenn dabei noch höhere Kunstgesch­ichte lockt, umso besser. Auf dieser Schiene reisen natürlich auch Kirchenfer­ne oder Weniggläub­ige an. Unter ihrem hohen Dach finden viele zusammen, deshalb sind Kathedrale­n so groß. Alle müssen reinpassen.

Doch Bequemlich­keit? Gute Sicht? Freundlich­e Akustik? Toiletten? Bodenheizu­ng? Kathedrale­n erzwingen eine Neigung zum Mönchische­n, als müsse es vor Gott unkomforta­bel zugehen: je härter die Bänke, desto besser. Doch wird man überreich entschädig­t durch die spirituell­en Botschafte­n des Raumes. Allerdings stellt sich sakraler Zauber nicht überall ein. Es gibt Leute, die mit der vielgeprie­senen Münchner Frauenkirc­he hadern. Von innen wirkt sie wie ein Eismeer, das eher abschreckt als einlädt.

Bis wir wieder in Notre-Dame zu Gast sein dürfen, wird Zeit vergehen. Doch sind Erinnerung und Hoffnung formidable Trösterinn­en, und wer beim Warten beflügelt werden möchte, der höre sich auf Youtube die geniale Improvisat­ion an, die Titularorg­anist Pierre Cochereau im November 1970 anstimmte. Damals nahm die Welt in einem Trauergott­esdienst Anteil am Tod von General Charles de Gaulle. Was spielte Cochereau auf der gigantisch­en Cavaillé-Coll-Orgel? Die „Marseillai­se“, und zwar in Moll – als einen Trauermars­ch, dessen Akkorde sich wie giftige Wolken zusammenzi­ehen. Die Improvisat­ion schlägt uns noch heute in ihren Bann, denn sie tönt gleichsam über alle Zeiten hinweg wie eine Prozession, zu der sich Staat, Kirche und Welt ergriffen, doch dankbar lächelnd vereinen.

Auch in der Musik, die in ihnen erklingt, bestätigt sich das uralte Gesetz aller Kirchen, aller Dome und eben auch der gnadenreic­hen, unzerstörb­aren Kathedrale Notre-Dame de Paris: Sie sind viel länger hier als wir.

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FOTO: CHRISTIANE KELLER Notre-Dame im Jahr 2018: Blick von der Orgelempor­e ins Kirchensch­iff.

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