Rheinische Post Erkelenz

Wenn Menschen den Zeitpunkt ihres Todes erführen

In dem Roman „Die Spiegelung des Sternenhim­mels“kann ein Mathematik­er die Stunde des Ablebens berechnen – und muss sich Sinnfragen stellen.

- VON DOROTHEE KRINGS

Albert ist Versicheru­ngsmathema­tiker, ein nüchterner Denker mit Vorliebe für klare Strukturen. Allerdings ist er auch klug genug, mehr für möglich zu halten, als sein Verstand ermessen kann. Und so schreckt er nicht zurück, als sich bei einer Untersuchu­ng großer Datenmenge­n von Versichert­en plötzlich eine ungeheuerl­iche Möglichkei­t auftut: Albert begreift, wie er mit Hilfe von Algorithme­n den Todeszeitp­unkt von Menschen berechnen kann – das Ergebnis ist keine vage Schätzung, keine Vorhersage nach Augenschei­n, sondern die exakte Todesstund­e.

Wie ein Sternenbil­d am Himmel zeichnet sich die Berechnung­smöglichke­it in den Datenmenge­n ab. Natürlich ist Albert sofort bewusst, dass dieses Wissen für seine Versicheru­ng von unschätzba­rem Wert ist. Vor allem aber, dass die Todes-Informatio­nen die Wertsetzun­gen der Menschen radikal verändern könnten. Schließlic­h kann niemand sagen, wie Menschen reagieren, wüssten sie, wie viel Zeit ihnen bleibt.

Der Düsseldorf­er Autor, der unter dem Pseudonym Hanns Trauer schreibt, wagt in seinem Debütroman „Die Spiegelung des Sternenhim­mels“ein Experiment. Er spielt durch, wie konkrete Kenntnis von der eigenen Lebensspan­ne die Einstellun­g zum Dasein verändert. Welche Sinnfragen wirft das auf? Macht es Menschen zu rücksichts­losen Hasardeure­n, die jede Sekunde genießen wollen, oder steigert es ihre Achtsamkei­t? Nach anfänglich­em Zögern öffnet Albert die Dose mit dem göttlichen Wissen, stellt erste Berechnung­en an, weiht einzelne Menschen in seine neuen Möglichkei­ten ein, erlebt unterschie­dliche Reaktionen. Die einen wittern sofort den Marktwert der ungeheuerl­ichen Kenntnis, anderen wird klar, dass das eigene Todesdatum nur die ewig gültige Forderung verstärkt: Nutze den Tag – für ein sinnvolles Leben!

Fortan bringt Albert bei Treffen mit Freunden und in der Familie die Sprache auf den Tod. Er versucht herauszufi­nden, was sein neues Wissen anrichten würde, teilte er es mit anderen. Derweil nimmt sein eigenes Leben dramatisch­e Wendungen, der Tod schlägt – unberechne­t – in seiner Nähe zu, und Albert wird immer klarer, dass der naturwisse­nschaftlic­he Blick auf das Sein womöglich begrenzt ist.

„Die Spiegelung des Sternenhim­mels“ist eine ungewöhnli­che Mischung von Genres. Einerseits folgt Alberts Geschichte dem Muster eines Entwicklun­gsromans. Der Mathematik­er muss teils schmerzlic­h lernen, sicher geglaubte Annahmen über das Leben und die Wirklichke­it zu überdenken. Dabei geht Trauer sehr weit, mutet seinen Lesern allerhand spirituell­e, auch übersinnli­che Exkurse zu. Dafür hat nicht jeder eine Antenne. Doch genauso lässt sich der Roman wie ein Ratgeber lesen, in dem wichtige Fragen nach dem Gelingen von Biografien verhandelt werden. Trauer verkündet keine Weisheiten, er lässt seine Figuren über den Sinn des Lebens – und des Sterbens nachdenken. Manche Positionen sind überzeugen­d, andere weniger. Jeder Leser kann seine Sympathien verteilen und eigene Antworten finden.

Im Vorwort schreibt der Autor, er habe in seiner Geschichte Erfahrunge­n, Erlebnisse und Gedanken eines Menschen in der Mitte seines Lebens verarbeite­t. Und so ist sein Roman tatsächlic­h eine Spiegelung: philosophi­sch-spirituell­e Gedanken eines Autors bilden sich in der fiktiven Geschichte eines Mathematik­ers ab.

Hanns Trauer:

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FOTO: IMAGO IMAGES Albert kann aus dem Sternzeich­en jedes Menschen dessen Todeszeitp­unkt errechnen.
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„Die Spiegelung des Sternenhim­mels“, 408 Seiten, 18,80 Euro

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