Nach dem Nationalstaat
Wussten Sie schon? Seit knapp einem halben Jahr leben wir in einer europäischen, pardon: in der Europäischen Republik. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs ist abgesetzt, dem Europaparlament gebührt das Recht, eine gesamteuropäische Regierung zu wählen.
Nun ja. All das ist einstweilen Vision. Formuliert haben sie am
10. November 2018 die deutsche Politologin Ulrike Guérot und der österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Ihr kühnes „Manifest der
Europäischen Republik“war teils politischer Akt, teils Kunstprojekt. Und, natürlich, Traumtänzerei. Aber eine, die Antworten auf drängende Fragen anbietet: Wie geht es weiter mit der EU nach dem Brexit? Ist an „mehr Europa“noch zu denken?
Dass ausgerechnet Menasse dabei federführend ist, der gerade zu Recht für den freihändigen Umgang mit Zitaten zur europäischen Einigung in der Kritik stand, ist misslich. Aber die Lage der EU stellt, und damit haben Guérot und Menasse dann trotzdem recht, die Frage nach der Zukunft des Nationalstaats neu. Sie geben eine denkbar radikale Antwort: „Die konstitutionellen Träger der europäischen Republik sind die Städte und Regionen“– das soll wohl heißen: Die Identität möge von ganz unten kommen, die Staatsorganisation dagegen ganz oben angesiedelt sein. Für den Nationalstaat, wie wir ihn kennen, lässt das keinen Platz mehr.
Ähnlich schwungvoll äußerte sich jüngst der irische Historiker Brendan Simms: „Natürlich werden die Nationen weiterbestehen. Wenn aber die Nationalstaaten weiterbestehen sollen, dann sehe ich schwarz für Europa.“Für Brüssel sind solche Steilvorlagen ein bisschen zu steil. „Europa kann sich nicht gegen den Nationalstaat auf den Weg machen“, sagte im Februar Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Und: „Ich bin kein Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa.“
Tatsächlich scheint für Völker oder Nationen, die Begriffe sind schwierig zu trennen, derzeit ausschließlich der Nationalstaat die naturgemäße Organisationsform zu sein. Der europäische Einigungsschwung der ersten 40, 50 Nachkriegsjahre ist ein fernes Echo, die Vereinigten Staaten von Europa sind auf absehbare Zeit nicht mehrheitsfähig. Ganz so einfach ist es dann aber auch nicht. Der Nationalstaat als Gefäß, selbst die Nation als sein Inhalt sind keine naturgesetzlichen Konstanten. Juristisch sind sie ohnehin Definitionssache – einen Staat kann man neu ausrufen, Kriterien der Staatsbürgerschaft ändern. Nationen sind aber auch in einem tieferen Sinne „erdacht“, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson schon 1983 festgestellt hat: nicht fiktiv, aber menschengemacht. Die Nation ist für Anderson etwas Abstraktes (niemand kennt auch nur den größeren Teil seiner Landsleute), das trotzdem sehr konkret wirken kann: als Inbegriff einer Gemeinschaft. Das Erfolgsgeheimnis des Nationalstaats war, als er sich im 18. und 19. Jahrhundert durchsetzte, seine unerhörte Modernität. Gemeinsame Sprache, Abstammung und Gebräuche erwiesen sich als starke Bande, stärker als die Treue zu einer Dynastie oder ein religiöses Bekenntnis. Für Millionen Europäer war die Nation Grund genug, monströse Kriege zu führen.
Unverkennbar ist bei näherem Hinsehen auch, dass der Nationalstaat ein Problem hat. Die riesenhaften finanziellen, wirtschaftlichen und außenpolitischen Herausforderungen Europas dürften über kurz oder lang ohne den Transfer weiterer Macht nach Brüssel nicht zu bewältigen sein. Europa hängt zwischen Staatenbund und Bundesstaat, in einem schmerzhaften Spagat. Zum Beispiel ist die Aussage nur wenig überspitzt, der Euro habe den Kontinent bisher eher gespalten als vereint. Wie
Was halten Sie von der Vision von Martin Schulz, bis 2025 die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen?
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