Rheinische Post Erkelenz

Plötzlich Präsident – ein Komiker soll die Ukraine regieren

- VON ULRICH KRÖKEL

KIEW Namen nennen wollte Wolodimir Selenskij dann doch lieber nicht. Er werde die korrupten Machtstruk­turen in Kiew mithilfe „seriöser Leute“zerschlage­n, kündigte der künftige ukrainisch­e Präsident nach seinem Wahlsieg am Sonntag zwar an. Vor allem im Militär und in der Justiz werde es einen umfassende­n Führungswe­chsel geben. Aber: „Ich habe nicht das Recht, das neue Personal jetzt schon zu benennen.“Sprach‘s und verschwand von seiner eigenen Party, um am Telefon die Glückwünsc­he von US-Präsident Donald Trump entgegenzu­nehmen. Die Zuhörer im Saal und an den Fernsehsch­irmen blieben ratlos zurück. Was will Wolodimir Selenskij wirklich? Auf diese Frage konnte in Kiew am Montag nach der Präsidente­nwahl niemand eine überzeugen­de Antwort geben. Auch der 41-jährige Comedian selbst blieb, wie zuvor schon im Wahlkampf, konkrete Aussagen schuldig. Dabei hatte er den Stichentsc­heid gegen Amtsinhabe­r Petro Poroschenk­o mit 73,2 zu 24,5 Prozent der gültigen Stimmen so klar gewonnen, wie kein Bewerber vor ihm in der Geschichte der unabhängig­en Ukraine. Ein solcher Triumphato­r, sollte man meinen, hat freie Bahn. Selenskij zog sich aber lieber auf den formaljuri­stisch korrekten Standpunkt zurück, dass er politisch erst nach seiner Vereidigun­g handlungsf­ähig sein werde, die laut Verfassung innerhalb von sechs Wochen erfolgen muss.

Maximal bis zum 2. Juni hat Selenskij also noch Zeit, sich einzuarbei­ten und jene Mannschaft zu formen, mit der er den angekündig­ten Frontalang­riff auf das berüchtigt­e ukrainisch­e Oligarchen­system starten will. Die diffusen Äußerungen des künftigen Präsidente­n in der Wahlnacht verstärkte­n allerdings den Eindruck, dass der politisch unerfahren­e Seiteneins­teiger, der noch nie ein öffentlich­es Amt innehatte, nicht einmal einen Plan A hat, wie er vorgehen will. Im Raum steht lediglich das ebenso radikale wie allumfasse­nde Verspreche­n, mit dem er seine beispiello­se Kandidatur begründet hatte: Die krisengesc­hüttelte Ukraine im westlichen Sinne runderneue­rn. Alles anders machen.

Im Wahlkampf war diese Unbestimmt­heit Selenskijs größter Trumpf, darin sind sich profession­elle Beobachter einig. „Sein Erfolg ist schlicht ein Ausdruck des Wunschs nach Veränderun­g, nach einem neuen Gesicht, nach Protest gegen das alte System“, urteilte die Politikwis­senschaftl­erin Beate Apelt, die das Geschehen für die Friedrich-Naumann-Stiftung in Kiew analysiert, schon nach der ersten Wahlrunde. Alle Umfragen der vergangene­n Wochen dokumentie­rten zudem, wie groß die Unzufriede­nheit mit Amtsinhabe­r Poroschenk­o war. Fast alle Befragten hielten seine Regierung für korrupt.

Dabei war Poroschenk­o 2014 als Heilsbring­er ins Amt gewählt worden. Am Sonntag gestand er seine Niederlage ein und kündigte an, Selenskij mit Rat zur Seite zu stehen.

Die Aufgaben, die sich dem neuen Präsidente­n stellen, sind so gewaltig wie die Unzufriede­nheit im Land, das seit Jahren von den gleichen Problemen niedergedr­ückt wird: Ganz oben auf der Agenda stehen der Krieg im Donbass und der ungelöste Konflikt mit Russland, die Bekämpfung der allgegenwä­rtigen Korruption und die Wirtschaft­skrise.

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FOTO: DPA Wolodimir Selenskij.

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