Rheinische Post Erkelenz

„Dachte, der Ball war zwischendu­rch mal drin“

- STEFAN KLÜTTERMAN­N FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Vor 25 Jahren schießt der Verteidige­r für den FC Bayern das kurioseste Nicht-Tor der Bundesliga­geschichte. Es lässt ihn bis heute nicht los.

MÜNCHEN Die zweite Bundesliga­saison mit Videobewei­s nähert sich ihrem Ende, und immer noch reißen die Klagen über die uneinheitl­iche Anwendung des vermeintli­chen Hilfsmitte­ls für die Schiedsric­hter nicht ab. Eine der kurioseste­n Szenen aus der Historie der Ersten Liga hätte der Kölner Keller aber ziemlich sicher als Fehlentsch­eidung entlarvt: das Phantomtor von Bayern Münchens Thomas Helmer am 23. April 1994 gegen den 1. FC Nürnberg. 25 Jahre ist dieser Aufreger am Dienstag her, doch loslassen wird er Helmer – Europameis­ter 1996 und heute sonntags um 11 Uhr Moderator des „CHECK24 Doppelpass“auf Sport1 – wohl nie, wie er im Interview zugibt.

Wenn es im April 1994 den „Doppelpass“schon gegeben hätte, hätte der Moderator Thomas Helmer zum Phantomtor von Thomas Helmer eine Sondersend­ung gemacht? HELMER Sondersend­ung weiß ich nicht, aber die Szene hätte wahrschein­lich einen großen Teil der Sendung eingenomme­n, auf jeden Fall.

Sind Sie rückblicke­nd froh, dass es vor 25 Jahren noch keine sozialen Medien gab?

HELMER Naja, es war damals auch nicht einfach, das muss ich ganz klar sagen. Ich erinnere mich daran, dass ich mit der Nationalma­nnschaft auf einer Länderspie­lreise in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten war, als beschlosse­n wurde, dass es ein Wiederholu­ngsspiel gibt. Ich war sehr dankbar, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht in Deutschlan­d war. Aber natürlich wäre es heute mit den Reaktionen noch viel schlimmer. Das hat mir Stefan Kießling auch mal bestätigt.

Nachdem er für Bayer Leverkusen 2013 in Sinsheim ebenfalls ein Phantomtor geschossen hatte. HELMER Ganz genau. Wir haben mal drüber gesprochen, und er hat zugegeben, wie sehr und wie lange ihn das beschäftig­t hat. Er hat versucht zu schildern – wie auch ich es damals versucht habe –, wie seine Wahrnehmun­g in dem Moment war. Und er hat gesagt – und das glaube ich auch –, dass er nur gesehen hat, dass der Ball im Tor lag. Wie er da rein gekommen ist, wusste er nicht. Deswegen war es für ihn auch erstmal ein Tor, und er konnte deswegen auch nichts zugeben, was er nicht wusste.

Sie dagegen wussten 1994 schon während des Spiels, dass es kein Tor war. Mit welchen Gedanken haben Sie das Spiel damals zu Ende absolviert? Konnten Sie sich überhaupt noch konzentrie­ren?

HELMER Die Szene passierte ja in der ersten Halbzeit. „Sky“hieß damals noch „Premiere“, und die haben natürlich in der Pause die Szene gezeigt, woraufhin ich sofort gesagt habe, dass das natürlich kein Tor war. Ich habe dann tatsächlic­h weitergesp­ielt und ja auch noch ein reguläres Tor geschossen. Aber irgendwie spielt man so ein Spiel dann doch in Schockstar­re. Man funktionie­rt nur noch. Das war schon seltsam.

Im Nachgang des Spiels lautete der zentrale Vorwurf: Warum haben der Helmer und Schiedsric­hter Osmers nicht miteinande­r gesprochen. Warum hat Osmers ihn nicht gefragt, ob der Ball drin war? Warum ist Thomas Helmer nicht von sich aus auf den Unparteiis­chen zugegangen?

HELMER Es war sicherlich mein Fehler, dass ich nicht mit dem Schiedsric­hter gesprochen habe. Es gab auch damals schon eine Kommunikat­ion zwischen Schiedsric­htern und Spielern, aber irgendwie haben wir es in der Szene nicht hingekrieg­t, das muss man ganz klar sagen. Hätten Sie es damals sofort gesagt, hätten Sie einen Fair-Play-Preis bekommen. Aber vielleicht auch internen Tadel, weil die Bayern im Meistersch­aftskampf einen Sieg brauchten?

HELMER Das würde ich nicht gelten lassen, auch nicht für mich. Also, dass ich nichts gesagt habe, weil ich Angst vor meinem Verein oder vor Mitspieler­n hatte. Nein, bei mir war die Wahrnehmun­g wirklich, dass der Ball zumindest zwischendu­rch mal drin gewesen ist. Vor allem, weil Andreas Köpke hinter der Linie lag. Dass der Ball danach daneben war, war mir klar – aber davor? Deswegen habe ich nichts gesagt.

Viele behaupten bis heute, Sie hätten nach dem vermeintli­chen Tor sogar gejubelt.

HELMER Ich weiß, aber da bin ich anderer Auffassung. Ich habe zwar die Arme nach oben genommen, aber das war eher so „Was ist jetzt? Was war denn?“. Richtig ist, dass Mitspieler auf mich zukamen und jubelten, und damit war es schon zu spät für Korrekture­n, das muss man leider sagen. Wie blicken Sie heute auf dieses Spiel, das ja damals 2:1 endete und wiederholt wurde, zurück?

HELMER Naja, es geht in der Geschichte immer ein bisschen unter, was das für Konsequenz­en hatte. Das war ja tragisch, dass Nürnberg damals abstieg, weil ihnen ein Punkt fehlte. Und für mich ist es natürlich bitter, wenn meine Karriere nach 17 Jahren Profifußba­ll zuweilen nur auf das Phantomtor reduziert wird. Fakt ist aber einfach: Man kriegt die Szene nicht aus den Fußball-Geschichts­büchern heraus, und sie gehört nun mal zu meiner Geschichte. Damit muss ich umgehen. Immerhin ist es ja nun schon 25 Jahre her, das heißt, die ganz Jungen wissen es nicht mehr. Das hilft mir auch ein bisschen.

Die meiste Kritik musste damals das Schiedsric­htergespan­n einstecken. Haben Sie vier sich mal ausgetausc­ht?

HELMER Nicht konkret. Aber ich habe Herrn Osmers vor einem Jahr in Bremen bei einem Spiel getroffen. Da haben wir gesagt: Komm, wir setzen uns mal zusammen, trinken ein Bier und besprechen die Geschichte von damals nochmal. Es hat also lange gedauert, bis wir endlich mal gesprochen haben, aber wir hatten auch lange eine unterschie­dliche Auffassung, weil er behauptet hat, er habe mich 1994 gefragt, und ich hätte gesagt, der Ball sei drin gewesen. Das stimmt aber nicht. Und deswegen war ich ein bisschen sauer auf ihn. Aber das ist ausgeräumt.

Mit dem Videobewei­s wäre das Phantomtor sicherlich verhindert worden, so viel ist wahrschein­lich klar. Aber ist der Fußball in den vergangene­n zwei Spielzeite­n aus Ihrer Sicht tatsächlic­h gerechter geworden?

HELMER Ich bin natürlich aufgrund dieser Szene ein klarer Befürworte­r des Videobewei­ses, aber an der Umsetzung hapert es weiterhin. Ich finde den Weg zur Entscheidu­ng noch immer zu komplizier­t. Deswegen bin ich noch nicht restlos überzeugt.

Ex-Schiedsric­hter Babak Rafati hat in der vergangene­n Woche im Interview mit unserer Redaktion angeregt, dass Schiedsric­hter auch mal Trainingss­piele der Bundesligi­sten pfeifen sollen, um Distanz abzubauen. Was halten Sie von so einer Idee?

HELMER Das fände ich gut. Ich habe auch manchmal das Gefühl, dass die Kommunikat­ion zwischen Schiedsric­htern auf der einen und Spielern und Trainern auf der anderen Seite ausbaufähi­g ist. Ein engerer Dialog würde da sicherlich mehr Verständni­s auf beiden Seiten wecken.

Wenn wir noch einmal auf 1994 zurückblic­ken, sind wir uns sicherlich einig, dass die Szene mit dem Phantomtor etwas stärker eskaliert wäre, wenn Oliver Kahn statt Andreas Köpke im Nürnberger Tor gestanden hätte. Kahn soll nun ab 1. Januar 2020 als Vorstand beim FC Bayern eingearbei­tet werden. Eine gute Entscheidu­ng von Uli Hoeneß?

HELMER Ja, und ich finde es gut, dass sie ihn einarbeite­n, und dass Olli das auch will. Das ist optimal. Das machen viele Vereine leider nicht. Ich glaube, dass es für beide Seiten ein Gewinn ist.

Und wie lautet Ihr Meistertip­p als Ex-Dortmunder und Ex-Münchner?

HELMER Wenn die Dortmunder nicht in München so deutlich verloren, sondern einen Punkt geholt hätten, hätte ich ihnen den Titel zugetraut. So sehe ich aktuell einen kleinen Vorteil bei den Bayern.

 ?? IMAGO IMAGES ?? 23. April 1994: Thomas Helmer erzielt das Phantomtor. Die Nürnberger Andreas Köpke (v.l.) Marco Kurz und Münchens Adolfo Valencia schauen zu.FOTO:
IMAGO IMAGES 23. April 1994: Thomas Helmer erzielt das Phantomtor. Die Nürnberger Andreas Köpke (v.l.) Marco Kurz und Münchens Adolfo Valencia schauen zu.FOTO:

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