Rheinische Post Erkelenz

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Die Zentralste­llen wussten, dass in Oberschles­ien nicht gegen Ulitzka regiert werden konnte. Die Gemischte Kommission mit Sitz in Kattowitz hatte außer dem vom Völkerbund­srat ernannten Präsidente­n Calonder zwei deutsche, von der Reichsregi­erung ernannte, und zwei polnische, von der polnischen Regierung ernannte Mitglieder. Diese waren keine Beamten und ausdrückli­ch von Weisungen ihrer Regierunge­n freigestel­lt, von denen sie anderersei­ts jederzeit ihres Amtes enthoben werden konnten. Die ursprüngli­chen deutschen Mitglieder Hans-Adolf Moltke und Lukaschek waren durch eine Zusage gesichert worden, dass sie beim Ausscheide­n aus dem Amt im preußische­n oder Reichsdien­st mindestens als Ministeria­lrat wieder einzustell­en seien. Dieselbe Zusage erhielt ich mit Brief und Siegel vom Auswärtige­n Amt und vom preußische­n Innenminis­terium. Ende 1924 war Moltke ausgeschie­den und Dirigent und dann Direktor in der Ostabteilu­ng im Auswärtige­n Amt geworden. An seine Stelle trat, weil der Arbeitsanf­all nicht groß war, als ehrenamtli­ches Mitglied Graf Praschma, der Eigentümer der Herrschaft Falkenberg in Deutsch-Oberschles­ien und Zentrumsab­geordneter im Reichstag. Er war dort der letzte Repräsenta­nt des katholisch­en Adels aus der Zeit vor 1914, in der dieser zu einflussre­icher politische­r Arbeit im Zentrum gelangt war. Graf Praschma konnte infolge seiner Inanspruch­nahme durch die Verwaltung seines zudem notleidend­en Besitzes und wegen seiner umfassende­n ehrenamtli­chen Tätigkeit nur wenig Anteil an der Arbeit der Gemischten Kommission nehmen und erschien nur

selten zu einer Sitzung. Er war ein großer Herr, der nicht an Arbeitseif­er oder gar Betriebsam­keit litt. Seine vornehme Gesinnung wie seine Geistesund Herzensbil­dung machten die Art der Zusammenar­beit mit ihm förderlich und angenehm, die ich mir nicht besser hätte wünschen können.

Präsident Calonder besaß alle Voraussetz­ungen für sein Amt. Er stammte aus dem Engadin, also aus einer kleinen Minderheit, die sich trotz aller freiheitli­chen Rechte gegenüber den drei anderen Nationalit­äten in der Schweiz nicht voll gleichbere­chtigt fühlte und inzwischen ihre Rechte vermehrt hat. Weniger als durch die Rechtslage fühlten sich die untereinan­der wieder verschiede­nsprachige­n rhätoroman­ischen Volkssplit­ter im Engadin aber bedroht durch stille Aufsaugung seitens der deutschen Umwelt. Calonder hatte also aus eigener Erfahrung Sinn und Verständni­s für die Lage einer völkischen Minderheit, so verschiede­n auch die Verhältnis­se in der toleranten Schweiz und in dem nationalis­tischen Polen waren. Seine Herkunft belastete ihn allerdings mit einem leicht antideutsc­hen Affekt, weil die Engadiner einer wenn auch unbeabsich­tigten Eindeutsch­ung gegenübers­tanden. Zudem gehörte Calonder politisch der freisinnig­en Richtung an, die – so konservati­v der Liberalism­us in der Schweiz auch war – für Deutschlan­d und besonders Preußen zumindest keine besondere Vorliebe hatte. Calonder besaß aber einen ausgeprägt­en Sinn für Freiheit und Recht aus seiner langen Tätigkeit als Anwalt, und je mehr er die willkürlic­he Bedrückung der Deutschen in Polen im Verlauf seiner Tätigkeit erkannte, umso stärker wurde sein oft leidenscha­ftliches Eintreten für die Wahrung des Rechts.

Zur Durchsetzu­ng des Rechts in Oberschles­ien bedurfte es aber nicht nur sauberer rechtliche­r Beurteilun­g und Entscheidu­ng, sondern auch der Erkenntnis der gegebenen Wirklichke­it, der Einfühlung in die Machtverhä­ltnisse und einer geschickte­n Hand, um den Entscheidu­ngen, die nicht mit Zwang vollstreck­t werden konnten, praktische Wirkkraft zu verschaffe­n. Hierfür besaß er große Erfahrung aus seiner langen Tätigkeit als Politiker. Er hatte als Bundesrat in der schwierige­n Kriegszeit das auswärtige Ressort verwaltet und war Schweizer Bundespräs­ident gewesen. So hatte er sich in der staatsmänn­ischen Kardinaltu­gend der moderatio (der Mäßigung) zu üben gelernt, was ihm bei seiner Impulsivit­ät sicher schwer geworden ist. Er neigte von Natur zu erregtem Aufbrausen, wenn die Dinge nicht nach seinem Sinn verliefen, und das machte oft die Führung der Verhandlun­gen schwierig, besonders bei Aussagen ungeschick­ter, dazu noch mit Sprachschw­ierigkeite­n kämpfender Zeugen. Calonder sprach ein vollendete­s Hochdeutsc­h ohne jeden Schweizer Dialektank­lang, aber die Oberschles­ier verstanden die vielfach doch recht unterschie­dlichen Schweizer Ausdrücke nicht. Wenn er bei der Eidesbeleh­rung – für die trotz allen Freisinns neben dem Kruzifix zwei Kerzen angezündet wurden – von der Strafe des „schweren Kerkers „ sprach, so erschreckt­e das die Zeugen in ungewollte­m Maße. Wenn er sie dann zum Hinsetzen auffordert­e, so geschah das mit dem üblichen Schweizer Ausdruck: „Sitzen Sie ab!“. Der brave Oberschles­ier verstand das nicht und blieb zitternd stehen, weil er mit „Absitzen“den Begriff des Gefängniss­es verband. Calonder erregte sich dann, und die Zeugenvern­ehmung wurde entspreche­nd mühsam. Auch in der Beratung ging es lebhaft zu. All das geschah mit einem entwaffnen­den Lächeln um seine anständige­n, blauen Augen, und schließlic­h war er ja fast 25 Jahre älter als wir und Schweizer Altbundesp­räsident. Ich kann ihm bescheinig­en, dass er versucht hat, den Minderheit­en zu ihrem Recht zu verhelfen. Wenn er Entscheidu­ngen ausgewiche­n ist, so begründete er das unter vier Augen mit seiner Machtlosig­keit, oder er wies darauf hin, dass er jederzeit bereit sei, zu resigniere­n. Letzteres stimmte zwar nicht, aber er wusste genau, dass jeder vom Völkerbund­srat bestellte Nachfolger für Deutschlan­d schlechter sein werde als er.

Jede der beiden Regierunge­n war bei dem Präsidente­n der Gemischten Kommission durch einen Staatsvert­reter – agent d’Etat – vertreten, durch den der Präsident seine Wünsche und Beschwerde­n formell den Regierunge­n übermittel­n konnte. Außer den Staatsvert­retern gab es dann noch je einen Bevollmäch­tigten für Arbeitsfra­gen, die jedoch wenig zur Geltung gekommen sind. Von deutscher Seite war es der als Schlichter in wichtigen Tarifstrei­tigkeiten damals sehr bekannte Professor Brahn, der ein klassische­r Vertreter höchster deutsch-jüdischer Bildung war und uns mit seinem gütigen Herzen ein lieber Freund wurde, auf dessen Besuche von Berlin aus wir uns zu Hause immer besonders freuten.

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